: Lieber Kollege Fang
Offener Brief an „Chinas Sacharow“, den Astrophysiker und Regime-Kritiker Fang Lizhi, z.Z. in der US-Botschaft in Peking ■ D O K U M E N T A T I O N
Am Montag nach den Ereignissen erhielt ich noch Ihre telexe Anfrage bezüglich unserer deutschen Ausgabe Ihrer Universitätsreden. Ich habe über die Bedeutung dieser Botschaft sehr gerätselt und sie zuletzt als Zeichen gelesen, daß Sie das Massaker übelebt und der drohenden Verhaftung entgangen sind, daß Sie unbeirrt Ihren Aufgaben nachgehen. Dann kam die Nachricht, daß Sie und Ihre Frau in der US-Botschaft Schutz gefunden und als „Landesverräter“ von der eigenen Regierung verurteilt worden seien. Ich schreibe Ihnen heute diesen Brief, an Ihr neues Domizil, weil wir alle vor Fragen stehen , die erörtert werden müssen (...).
Mit Hongkong erwachsen China nun die größten Schwierigkeiten. Auf die emotionsgeladenen Protestdemonstrationen, an denen sich alle Teile der Bevölkerung beteiligt haben, folgte die Plünderung der kleinen und mittleren Kontos bei der Bank von China der VRCh. Aus Furcht zu verlieren und aus der blanken Wut gegen Pekings Willkür wurden Tausende von Konten aufgelöst. Bisher hatte man sich murrend damit abgefunden, Peking werde nur eine sehr eingegrenzte Autonomie nach 1992 zulassen. Jetzt lebt der Ruf mit Macht wieder auf, sich ohne Rücksicht auf Pekings Wünsche in den verbleibenden sieben Jahren doch wenigstens eine demokratisch gewählte Vertretung zu geben. Das Vertrauen in Dengs Formel von den „50 Jahren ohne Veränderung“, welche Peking garantierte, das ohnehin nie sehr groß war, ist dahin. Neue Auswandererwellen kündigen sich an, die die dynamischen und fachlich Kompetesten aus der Kronkolonie hinwegreißen wird.
Auf Taiwan kosten die Medien die neuen Pressefreiheiten aus und berichteten täglich in früher ganz ungeahnter Ausführlichkeit. Die taiwanesische Bevölkerung aber, die die Oberherrschaft der seit 1949 sie beherrschenden Festländer und ihrer Cliquen und Clans abschütteln möchte, gibt ihrem Unmut ob solch unnötiger Ausführlichkeit Ausdruck. Die VR China ist für ihr ewiges Chaos, für die endlosen Kampagnen und Brutalitäten, für ihr Banausentum und ihre wirtschaftliche Ineffizienz schließlich selbst verantwortlich, so meint man (...). Und wenn Reformkräfte in der KMT-nahen Oberschicht vorher möglicherweise die „chinesische Karte“ wollte, um den vulkanartigen taiwanesischen Unabhängigkeitsdrang in Schach zu halten: Das Spiel ist zu Ende bevor es noch richtig losgehen konnte, mit Pekinger Mordgesellen und krankhaften Politlügnern läßt sich kein Deal mehr machen.
Die Beziehungen zu Japan sind komplexer, als daß sie in zwei Sätzen abgehandelt werden können. Aber japanischer Hochmut und die Verachtung gegenüber den Chinesen, die in vier Jahrzehnten ihr Land haben verkommen lassen und ihre Bevölkerung psychisch in die Erschöpfung gescheucht haben, hebt jetzt erst recht das Haupt. Japans Harvard Business School-Elite, die beim Studium in den USA einen mitleidigen Bogen um Chinas junge Wirtschaftsstudenten in den USA machen, Japans Geschäftsleute, die sich mit Achselzucken fürs Wochenende schnell aus dem miefigen Peking nach Hongkong absetzen, eine solche Grundhaltung China gegenüber verspricht nichts Gutes für die Zukunft. Die Panzerketten auf dem Tiananmen haben die Kluft noch weiter aufgerissen das übertünchen auch hochrangige Staatsbesuche zwischen Tokio und Peking nicht (...).
Wolken auch über den Beziehungen zu Europa und der Bundesrepublik. In Blut hatten die Studenten auf den Platz geschrieben: Li Peng, du wirst niemals mehr in Frieden leben! Die EG-Beschlüsse zu China besagen, daß diesem verbrecherischen Premier kein westlicher Politiker mehr die Hand reichen dürfe. Die rund 5.000 Studenten aus der Volksrepublik, die China in den letzten Jahren - wie in den USA und anderswo - bei uns im Ausland ausbilden ließ, werden nur zu einem Bruchteil nach Hause zurückgehen. Sie haben sich mit Aktivitäten abgegeben, die angesichts der Verhaftungen und Erschießungen eine Rückkehr nicht ratsam erschienen lassen. Die Chinawochen in Duisburg, der Austauschstadt von Wuhan, sind von den Ereignissen überschattet, die Frankfurter Chinawoche Anfang Juli ist völlig abgesagt. Wissenschaftsministerin von Nordrhein -Westfalen, Anke Brunn, hat faktisch die Einfrierung der gesamten Wissenschaftsbeziehungen zu China angeordnet. Berliner Hochschulen suspendieren ihre blühende Partnerschaft, die Ruhr-Universität Bochum hat, wie die TH Aachen, TH Darmstadt und andere, eine Entscheidung über die Fortführung der Beziehungen noch zu treffen.
Und die Studenten selbst: Eine nie gekannte Solidarisierung setzte zunnächst nach dem Blutsonntag ein. Angesehene Intellektuelle wie der Lyriker Bei Dao und andere nehmen bei uns im Fernsehen kein Blatt mehr vor den Mund. Wer niemals an Auflehnung und Umsturz geacht hatte, erwägt jetzt die Alternativen: Gründung einer einflußreichen international präsenten politischen Oppositionspartei von den Auslandschinesen in Kanada, den USA bis zu den Chinesen in Südostasien, Japan und Australien; Bildung einer Untergrundorganisation oder gar der Aufbau anarchistischer Terrorzellen. Die von Deng nach Peking geholten Armeecorps haben, so scheint es, die Truppen, die einmal ihren Untergang herbeiführen werden, selbst heraufbeschworen. Vom Ideal der gewaltfreien Aktion für Reformen wendet sich die chinesische Intelligenz im Ausland jedenfalls ab, Gewaltbereitschaft im politischen Feld ist die Folge.
Und in China selbst spielt der Propagandaapparat verrückt. Nicht mehr die eleganten kleinen Verdrehungen, sondern faustdicke Lügen sind gefragt. Hunderttausende auf dem Platz und in den Straßen werden zu „einer kleinen Handvoll“: Der unselige Deng hat keinen Schuß dort gehört. Aus der Hoffnung idealistischer Jugendlicher Chinas auf Reformen sind Wichte, Tagediebe und Vagabunden geworden.
Die Alten tischen sichtlich ihr letztes Aufgebot auf. Das Politbüro wird wohl eine Lebensverlängerung seiner Mitglieder bis aufs einhundertzwanzigste Lebensjahr beschließen, für die wirklich unentbehrliche Führungsriege.
Deng hat seine großen historischen Verdienste, das Land vom Maoismus befreit zu haben, dazu seine beachtenswerte Leistung der Einleitung der Reform- und Öffnungspolitik verspielt (...).
In Bonn sind zwei unscheinbare Herren aus Peking eingetroffen, sie sollen hier „den Chinesen helfen, die neuen Parteiverlautbarungen“ zu verstehen, wie es heißt. Wohl eher haben sie aber ihre Diplomaten, Handelskader, vor allem die chinesischen Studenten und Wissenschaftler auf Linie zu zwingen. Furcht greift nun doch um sich, die Reihen der chinesischen Unterschriftssammler, Protestredner und Aktivisten gegen das Massaker lichten sich in den Städten und an den Unis der Bundesrepublik. Man ist zunehmend besorgt um die Angehörigen und wagt kaum mehr nach Hause zu telefonieren. Von Hongkong aus sind in den letzten Tagen die neuesten Nachrichten über fax, telex und Telefon einfach ins Inland hin in die Volksrepublik übermittelt worden. Chinesische Studenten versuchen diese Art von Widerstand gegen die faustdicken Lügen, auch von Westdeutschland aus. Zu spät allerdings. Längst gibt es in China die Anweisung, jedes dubiose fax habe unmittelbar nach dem Eintreffen zerrisen zu werden. Mit schwarzem Humor rufen chinesische Studenten aus der Bundesrepublik über 10.000 Kilometer kurzerhand die Nummern an, die die Pekinger Propagandabehörden offen zur gefälligen Denunziation anbieten. Eifrig möchte die andere Seite wissen, wen man denn wegen konterrevolutionärer Umtriebe zur Anzeige bringen wolle: Die chinesischen Studenten blockieren für Minuten die Leitungen und melden sukzessive zur Verhaftung wegen Verbrechens gegen das Volk an: den blutigen Strategen Deng Xiaoping, den hölzern-forschen Premier Li Peng sowie Staatspräsidenten Yang Shankun...
Sehr geehrter Herr Fang, so sieht meine Perspektive heute von Westdeutschland her aus (...) Wir wünschen Ihnen von der Bundesrepublik und Berlin aus die Kraft zum Durchhalten
Ihr Helmut Martin, Ruhruniversität Bochum
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen