Hexenjagd auf Naturheilmittel?

Über den gesellschaftlichen Umgang mit natürlichen Heilkräutern  ■  Von Reinhard Borgmann

Die Briefe sind schon gedruckt und liegen im Bundesgesundheitsamt (BGA) zum Versand bereit. Gibt es grünes Licht aus Bonn, werden sie in wenigen Tagen an über 1.100 Pharmahersteller in der Bundesrepublik verschickt. Die frohe Botschaft aus der obersten Arzneimittelüberwachungsbehörde der Republik wird bei den Unternehmen die Sektkorken knallen lassen. Für die Hersteller von Huflattichtees, Beinwellsalben oder Pestwurzextrakten hat sich der Aufwand gelohnt: In einer beispiellosen Kampagne haben sie das Bundesgesundheitsamt erfolgreich auf Industriekurs getrimmt.

Doch alles der Reihe nach. Schon im Jahre 1982 wurden in einer Arbeitsgruppe des Bundesgesundheitsamtes Bedenken gegen Medikamente laut, die wegen ihrer natürlichen Bestandteile allgemein als besonders unschädlich gelten: Fuchskreuzkraut, Huflattich, Pestwurz und Beinwell. Zusammen mit anderen, weniger in der Naturheilkunde gebräuchlichen Pflanzen waren es 14 Heilkräuter, die beim BGA unter dem Verdacht standen, zu Zellveränderungen in Leber und Lunge zu führen. Venenverschlußkrankheiten, insbesondere der kleineren und mittleren Lebervenen, aber auch Krebs sollten nach der damals vertretenen Auffassung durch die Anwendung solcher Präparate entstehen können. Als Ursache für die gesundheitsschädigenden Nebenwirkungen der Heilkräuter wurden die in den Pflanzen enthaltenen Pyrrolozidin -Alkaloide ausgemacht, im folgenden kurz PAs genannt.

Im Jahre 1983 wurden diese Erkenntnisse durch eine Publikation des BGA der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht. Zahlreiche weitere Forschungsergebnisse unterstützten die Auffassung der Behörde: Berichte über Lebervergiftungen durch PA-haltige Buschtees in Jamaica, über Lebererkrankungen durch PA-haltige Lebensmittel in Indien, Südafrika, Afghanistan und Japan. Zuletzt erschienen im Jahre 1988 zwei umfassende Standardwerke über die giftigen Wirkungen von PAs, darunter eine Zusammenstellung der Weltgesundheitsorganisation.

Doch trotz dieser Erkenntnisse blieb die Behörde gegenüber den Herstellern PA-haltiger Arzneimittel untätig. Erst ein im März 1988 veröffentlichter Bericht über den Tod eines Säuglings in der Schweiz brachte die Dinge ins Rollen: Die Mutter des Kindes hatte während ihrer gesamten Schwangerschaft gegen den Husten täglich eine Tasse Huflattichtee getrunken. Fünf Tage nach der Entbindung mußte das Baby wegen schwerer Leberschäden auf die Intensivstation, achtundreißig Tage nach der Geburt war das kleine Mädchen tot.

In detektivischer Kleinarbeit hat der Kinderarzt Dr. Michel Roulet von der Universitätsklinik Lausanne den Zusammenhang zwischen der Einnahme der Teemischung und der Venenverschlußkrankheit in der Leber des Kindes herausgefunden. Huflattich und Pestwurz waren neben anderen Bestandteilen in dem Tee enthalten. Die in diesen Pflanzen enthaltenen PAs hatten zu charakteristischen Schäden an der Leber geführt, so daß - nach Auffassung von Roulet - andere Ursachen für den Tod des Kindes ausgeschlossen werden konnten.

Wenige Monate, nachdem über diesen Fall ausführlich in den Medien berichtet wurde, trat das Bundesgesundheitsamt in Aktion. Am 10.August 1988 kündigte die Berliner Behörde in einem Brief an die betroffenen pharmazeutischen Unternehmer an, die Zulassung PA-haltiger Arzneimittel demnächst für ein Jahr ruhen zu lassen, also ein Verbot auf Zeit. Vier Wochen Zeit zur Stellungnahme zu den geplanten Maßnahmen räumte die Behörde den Arzneimittelherstellern ein. Den Brief an die Unternehmer schloß das BGA mit folgendem Satz: „Sollten Sie in Anbetracht der oben dargestellten Sachlage am Fortbestand der Zulassung kein weiteres Interesse haben, bitten wir Sie, auf beiliegendem Formblatt auf die Zulassung zu verzichten.“

Ein Sturm der Empörung brach los. Bei einer eilig vom „Zentrum zur Dokumentation für Naturheilverfahren“ zusammengetrommelten Pressekonferenz formierte sich erstmals der Widerstand gegen die Maßnahmen des BGA. Von einer „Hexenjagd auf Naturheilmittel“ war die Rede, 2.500 Präparate, die zumeist von mittelständischen Herstellern produziert werden, seien in Gefahr. Verschiedene Anfragen der SPD und der Grünen im Bundestag folgten umgehend und unterstellten dem Bundesgesundheitsamt, Naturheilmittel bei der Arzneimittelzulassung zu diskriminieren (so der SPD -Abgeordnete Peter Conradi).

Als weitere Reaktion auf die Maßnahme der Behörde wurde eine „Aktion für Biologische Medizin“ ins Leben gerufen. Mit mehr als 10.000 vorgedruckten Protestkarten, in denen zur Rettung von Naturheilmitteln aufgerufen wurde, überschüttete die Initiative das Bundesgesundheitsministerium. „Die Bevölkerung will die Biologische Medizin“, so behauptete die Geschäftsführerin der Aktion, Frau Ursula Gancar -Buchleitner. Deshalb sei das Verhalten des BGA „antidemokratisch“ und „gegen den Willen des Volkes“. Hauptinitiator der Aktivitäten der „Aktion für Biologische Medizin“ war allerdings weniger das Volk als die in Baden -Württemberg ansässige Firma Wala-Heilmittel GmbH, die mit 33 PA-haltigen Medikamenten besonders stark von den Maßnahmen des BGA betroffen ist.

Aber auch der Bundesverband Umwelt- und Naturschutz (BUND) setzte sich für den Erhalt PA-haltiger Arzneimittel ein. Annegret Willig, von Beruf Gesundheitsberaterin für ganzheitliche Naturheilverfahren und zugleich Sprecherin des Bereichs Gesundheit der Umweltorganisation: „Es gibt zwar Risiken bei diesen Medikamenten, aber die sind gegenüber den Risiken von konventionellen Arzneimitteln zu vernachlässigen.“

In die gleiche Richtung zielte die Internistin Dr. Veronica Carstens, Ehefrau des Ex-Bundespräsidenten: „Wir werden uns mit allen Mitteln dagegen wehren, daß bewährte Mittel vom Markt genommen werden.“ Das bekam auch schon das Bundesgesundheitsministerium zu spüren. In einem Schreiben an Ministerin Ursula Lehr setzte sich Nato-Generalsekretär Manfred Wörner persönlich für den Erhalt der betroffenen Medikamente ein.

Die meisten Hersteller PA-haltiger Arzneimittel sehen gegenwärtig für eine Rücknahme ihrer Medikamente keinen Anlaß. Dr. Frank Kasper, Apotheker bei den Kytta-Werken im Schwarzwald, zweifelte die fachliche Grundlage der geplanten Maßnahmen des Bundesgesundheitsamtes an. Von ihm und vielen anderen Kritikern wurden vor allem vier Hauptargumente ins Feld geführt:

1. Die in den Gutachten des BGA angeführten Tierversuche hätten unter unrealistischen Bedingungen stattgefunden. Die Tiere hätten ein Vielfaches der Dosen erhalten, die bei der Anwendung von Huflattichtee üblich seien.

2. Grundsätzlich seien die Ergebnisse von Tierversuchen auf Menschen kaum zu übertragen.

3. Alle Versuche hätten sich nur auf den Einzelwirkstoff bezogen. Zur Anwendung käme aber stets die Gesamtpflanze, die ein völlig anderes Wirkungsspektrum habe.

4. Die im Schreiben des BGA ausgeführten Erfahrungen aus anderen Ländern wären auf deutsche Verhältnisse nicht übertragbar, da hier ganz andere PA-haltige Pflanzen eingesetzt würden. Auch der Todesfall des Schweizer Säuglings hätte nur geringe Aussagekraft, da die Mutter drogensüchtig gewesen sei.

Kritisiert würde außerdem von den Herstellern, daß bis jetzt keine geeigneten Methoden zur exakten Bestimmung des PA-Anteils in Pflanzen zur Verfügung stehen.

Dr.Ulrich Hagemann, der an der Entscheidung des BGA maßgeblich beteiligt war und bei Gegnern der Behörde schon als „Huflattich-Killer“ verschrien ist, kann zumindest das letztgenannte Argument verstehen: „Schwierigkeiten bei der standardisierten Bestimmung bestehen durchaus, beziehen sich aber nur auf verfahrenstechnische Einzelheiten.“

Bei allen übrigen Vorwürfen ist der Biochemiker allerdings schon mit einem frappierend simplen Argument aus dem Schneider: Das BGA muß überhaupt keinen wissenschaftlich gesicherten Nachweis für eine Schädigung am Menschen führen. Die der Contergan-Katastrophe geschuldete Sicherheitsphilosophie des Arzneimittelgesetzes verpflichtet das Amt nämlich schon dann zu Maßnahmen der Gefahrenabwehr, wenn nur der begründete Verdacht eines Risikos besteht.

Eine Rechtsauffassung, nach der sich Umweltschützer und Atomkraftgegner die Finger lecken würden, erweist sich also im Bereich der Arzneimittel als wirksames Instrument des Verbraucherschutzes. Denn auch ohne die Rückendeckung dieser Maxime läßt sich die Kritik Punkt für Punkt widerlegen, die gegen die Argumente des BGA vorgebracht wurde:

zu 1. Das „Hochfahren“ der Dosis bei Tierversuchen ist ein in der gesamten Toxikologieübliches Verfahren, das auch zur Beurteilung synthetischer Drogen herangezogen wird. Zudem haben sich die beschriebenen gesundheitsschädlichen Effekte auch schon bei sehr viel niedrigeren Dosen eingestellt. Dr.Gottfried Kreutz vom BGA führt dazu aus:

„Selbst bei niedrigsten Dosen ließ sich im Tierexperiment eine Tumorbildung nachweisen. Der Mechanismus der Krebsentstehung ist in diesem Zusammenhang bekannt, ein unterer Schwellwert existiert nicht. Im Gegenteil spricht alles dafür, daß die Verabreichung niedrigerer Dosen über einen längeren Zeitraum gefährlicher ist als die Verabreichung höherer Dosen über einen kurzen Zeitraum. Auch bei Dosierungen im homöopathischen Bereich kann es Gefahren geben.“

zu 2. Auch die Übertragbarkeit der Ergebnisse aus den Tierversuchen mit PAs auf den Menschen ist wissenschaftlich umstritten. Hagemann: „Die chromosomenschädigende Wirkung kann in allen lebenden Zellen auftreten, gleichgültig, ob sie vom Tier oder vom Menschen stammen.“

zu 3. Nicht nur für den Einzelstoff, sondern auch bei der Gesamtpflanze konnte die giftige Wirkung der PAs in zahlreichen Versuchen nachgewiesen werden.

zu 4. Die Mutter des Säuglings aus Lasanne war nicht „drogensüchtig“. Sie hatte lediglich lange vor der Schwangerschaft zeitweilig Haschisch geraucht und berauschende Pilze zu sich genommen. Ob der Schweizer Fall und die übrigen vom BGA angeführten Berichte über Schädigungen durch PAs am Menschen tatsächlich jeweils in allen Einzelheiten den neuesten wissenschaftlichen Anforderungen standhalten, bezweifelt auch Hagemann. Da aber der grundlegende zellschädigende Mechanismus bei bestimmten PAs bekannt sei und die Ergebnisse von über 300 Veröffentlichungen gleichlautend sind, könnten nach seiner Auffassung dadurch keine neuen Argumente begründet werden.

Ein zusätzliches Argument in die PA-Debatte führt der Bremer Arzneimittelexperte Professor Peter Schönhöfer ein. Er beruft sich auf die alte Erkenntnis, daß Pflanzen Giftstoffe enthalten können, um sich vor ihren Vertilgern zu schützen. Neuere Forschungen hätten ergeben, daß dabei nicht nur schnell wirksame Gifte wie beim Fingerhut oder beim Knollenblätterpilz zu einem Vermeidungsverhalten von Insekten und anderen Tieren führen. Es gibt darüber hinaus so der Pharmakologe - auch krebserregende Giftstoffe, die in die Vermehrungsfähigkeit der Vertilger eingreifen und damit langfristig die Population der „Schädlinge“ regulieren. Schönhöfer ergänzt:

„Die Nutzung solcher Erkenntnisse bei der 'natürlichen‘ Resistenz von Pflanzen gegen Schädlinge gewinnt für den pestizidfreien Anbau zunehmend Bedeutung, muß dann aber auch bei der Unbedenklichkeit von pflanzlichen Produkten berücksichtigt werden. Dies gilt besonders, wenn diese in konzentrierten Formen als Arzneimittel verwendet werden.“

Folgt man Schönhöfers Überlegungen, hätte auch die krebserzeugende Wirkung von Huflattich, Beinwell und Borretsch eine plausible Funktion für das ökologische Gleichgewicht.

Den durch die in den Heilpflanzen enthaltenen PAs entstehenden hohen Risiken für den Menschen steht aber nur ein sehr geringer therapeutischer Nutzen gegenüber. Bei Husten gibt es nach Meinung des Lübecker Arzneimittelexperten Professor Carl-Peter Siegers auch andere pflanzliche Arzneimittel ohne die giftigen PAs, die bei geringeren Nebenwirkungen den gleichen schleimlösenden Effekt erzielen. Die Weiterverwendung von PA-haltigen Medikamenten hält der vom BGA unabhängige Toxikologe deshalb für einen Skandal, der sich nur mit den wirtschaftlichen Interessen der Pharmahersteller erklären läßt: „Mit den von einem Verbot betroffenen Medikamenten wird ein Jahresumsatz von 400 Millionen Mark erzielt.“

Dr.Ulrich Möbius, Herausgeber eines Nachrichtendienstes über Arzneimittelrisiken, wird noch deutlicher: „Die Mafia der grünen Pharmaindustrie blockiert seit 1982 wirksame Maßnahmen des Bundesgesundheitsamtes gegen PA-haltige Medikamente.“ Es wäre seiner Meinung nach ein verhängnisvoller Fehler, wenn an chemische und pflanzliche Arzneimittel zwei verschiedene Meßlatten angelegt würden.

Daß vor allem wirtschaftliche Argumente im Spiel sind, wenn es angeblich nur um die Erhaltung von jahrhundertelang bewährten Naturheilmitteln und die ärztliche Therapiefreiheit geht (Veronica Carstens), belegt eindrucksvoll der niedersächsische Wirtschaftsminister Walter Hirche. In einem Schreiben vom 1.September 1988 an das Bundesgesundheitsamt moniert sein Referent für Handel, Dienstleistungen und freie Berufe, Volker Schendel:

„(...) Durch das von Ihnen vorgesehene Vorhaben werden in Niedersachsen in erheblichem Umfang Arbeitsplätze gefährdet. (...) Ich muß leider den Eindruck haben, daß in dem Verwaltungsverfahren nicht der neueste Stand der Wissenschaft berücksichtigt ist. (...)“

Da das BGA auf die Einschüchterungsversuche aus Niedersachsen zunächst nicht in der erwarteten Weise reagierte, legte Regierungsdirektor Schendel am 12.Dezember des gleichen Jahres nach: Er redete von einem „Wissenschaftsskandal“ und tat die Absicht seines Ministers kund, im Rahmen einer Bundesratsinitiative das Arzneimittelgesetz zu novellieren: Künftig soll eine Mitsprache der Wirtschaftsminister der Länder bei der Zulassung von Arzneimitteln gewährleistet sein.

Die geballten Pressionen auf das BGA sind nicht ohne Folgen geblieben. In dem jetzt zum Versand bereitliegenden Schreiben des BGA an die Pharmahersteller werden die ursprünglich vorgesehenen Grenzwerte für PAs in Fertig -Arzneimitteln zugunsten der Industrie drastisch heraufgesetzt. Und dies trotz der bekannten Sicherheitsrisiken und der vom Bundesgesundheitsamt selbst formulierten Problematik, überhaupt bei krebserregenden Stoffen zulässige Grenzwerte anzugeben. Außerdem wird der zeitliche Rahmen für die Umsetzung der Auflagen ausgedehnt, um den Herstellern die Entwicklung eigener Meßverfahren zu ermöglichen.

Mit diesen erheblich abgemilderten Maßnahmen werden die betroffenen Firmen gut leben können. Da die PA-haltigen Medikamente außerdem nur einen kleinen Teil der pflanzlichen Arzneimittel ausmachen, sind - entgegen dem Getöse der Produzenten - Marktverschiebungen nicht zu erwarten. Und zumindest an den Wirkstoffen können die Hersteller jetzt sparen: Nach den neuen Grenzwerten müssen die angeblich heilsamen Lösungen nur noch etwas weiter als bisher üblich verdünnt werden.

Naturverbundene Arzneimittelkonsumenten, die nur ungern auf PA-haltige Medikamente in extrem hoher Dosierung verzichten wollen, können sich damit trösten, daß auch nach Abschluß der Aufbereitungsverfahren beim Bundesgesundheitsamt in den 90er Jahren immer noch 35.000 verschiedene andere pflanzliche Arzneimittel zur Verfügung stehen werden. Die überwiegende Anzahl kann auch dann noch von jedem - ohne Verordnung durch den Arzt - selbst angewendet werden. Die Frage, ob überhaupt Arzneimittel in diesen Mengen nötig sind, wird allerdings von kaum einer alternativen Heilmethode aufgeworfen. Dabei reicht es doch, sich eine pharmakologische Binsenweisheit ins Gedächtnis zu rufen: Fast alle Arzneimittel sind für den Körper Fremdstoffe. Es gibt deshalb keine Medikamente, die frei von Nebenwirkungen sind.