Angeklagte Vergewaltigungsopfer - nur Statistinnen

Im Revisionsprozeß gegen ihre Verurteilung wegen Totschlags des Vergewaltigers auf Zypern sind Ute und Melanie Loh zum Schweigen verdammt / Staatsanwalt zieht abstrakte Grenze zwischen erlaubten Mitteln der Notwehr und Tötung  ■  Aus Nikosia Ömer Erzeren

Stumm saßen die beiden Frauen aus Berlin auf der Anklagebank. Am Dienstag fand in Nikosia die Revisonsverhandlung im Prozeß gegen die 48jährige Lehrerin Ute Loh und ihre 20jährige Tochter Melanie statt. Vier bzw. drei Jahre Freiheitsstrafe waren das Strafmaß des erstinstanzlichen Gerichts Famagusta gewesen: Es hatte sie für schuldig befunden, nach mehrfachen Vergewaltigungen den Zypiroten Özmen Tulga getötet zu haben.

Es ist ein Prozeß voller Absurditäten. Die beiden Frauen sitzen auf der Anklagebank. Wozu - ist die Frage. In der Berufungsverhandlung, in der keine neuen Zeugen vernommen werden und Staatsanwalt, wie Verteidiger das Urteil der Strafkammer kommentieren, wird gänzlich auf Übersetzung verzichtet. Die Verteidigung erklärt vor Gericht, daß eine Übersetzung nicht notwendig sei. Schnell und glatt will die Verteidigung einen Freispruch vor der Berufungskammer in Nikosia erwirken. Die Angeklagten werden außen vor gelassen. „Sie spielen Statistenrollen in diesem Spiel“ bemerkt Giesela Loh, die seit Wochen tagtäglich im Gefängnis Nikosias ihre Schwester und Nichte besucht.

„Weder die Staatsanwaltschaft noch das Urteil des Strafgerichts bestreiten das doch“ unterbricht Richter Salih Dayioglu Verteidiger Ali Dana, der in langen Ausführungen die dreifache Vergewaltigung von Melani Loh und die Gegenwehr von Mutter und Tochter gegen Vergewaltiger rekonstruiert. In der Tat wird die Vergewaltigung, der nachfolgende gewaltsame Kampf mit Zeltstangen zwischen Vergewaltiger und Opfern von niemandem bestritten. Die Aussagen der beiden Frauen vor der Polizei unmittelbar nach den Vorfällen, die ärztlichen Gutachten, die den beiden schwere Verletzungen attestieren, die ausgeschlagenen Zähne von Ute Loh, die angeschwollene Vulva von Melani Loh sind zu offenkundig. Doch die Strangulierung des Vergewaltigers mit einem Gürtel, so die Argumentation der Strafkamnmer Famagusta in ihrer Urteilsbegründung, habe das erlaubte Maß an Notwehr überschritten. Der Vergewaltiger habe zu diesem Zeitpunk't bedingt durch Verletzungen an den Hoden, entkräftet am Boden gelegen.

Der Notwehrbegriff sei in dem Urteil des Stragerichts falsch ausgelegt worden, meint Verteidiger Ali Dana. „Ein Angegriffener kann sich in einer Notwehrsitutaion noch immer die adäquaten Mittel der Gegenwehr aussuchen.“ Vielmehr müßte die Form der Gegenwehr aus dem Kontext der Vergewaltigung, der Panik und Angst der beiden Frauen prägte, abgeleitet werden. Aufgrund der Verletzung am Hoden des Vergewaltigers und dem Umstand, daß Hose und Unterhose bis zu den Füßen heruntergezogen waren, ziehe das Stragericht unzulässigerweise den Schluß, daß eine akute Bedrohung für die jetzt angeklagten Frauen nicht merh bestand. Er zitiert aus der Vernehmung des Arztes, der die Autopsie an der Leiche vornahm. Ob die Verletzungen am Hoden zur Kampfunfähigkeit führe, wird der Arzt Albayrak gefragt. „Möglicherweise“, ist die Antwort. Nach Ansicht des Verteidigers war die Gefahr einer erneuten Vergewaltigung nicht gebannt. Daß es zu keiner Ejakulation kam bekräftige diese These.

Staatsanwalt Altan Erdag wiederholt am Dienstag seine Argumentation von Famagusta. Nachdem der Vergewaltiger am Boden lag, sei eine Flucht der beiden Frauen angemessen gewesen. „Die Angeklagten sagen, sie haben den Gürtel gefunden und zugeschnürt. Einem Kämpfenden kann man einen Gürtel nicht umlegen. Daß sie die Gelegenheit dazu hatten, demonstriert, daß der Verstorbene bereits schwerverletzt und kampfunfähig war.“ Wie hätten sie wissen sollen, daß er kampfunfähig war, es handelte sich um Sekunden, meint der Richter. Diese Frage bleibt unbeantwortet. Der Umstand, daß die nackten Frauen sich rasch notdürfigt bekleideten, bevor sie vom Zeltplatz ins nächstgelegene Dorf flüchteten, wird von dem Staatsanwalt gegen das Argument, Panik und Todesangst habe geherrscht, angeführt.

Häufig wird der Staatsanwalt von dem vorsitzenden Richter unterbrochen. So an einer zentralen Aussage. Staatsanwalt: „Die Strafe von Vergewaltigung ist, nicht getötet zu werden. Das ist Selbstjustiz“. Richter: „Und wenn es keine andere Möglichkeit gab, die Vergewaltigung abzuwehren?“ Staatsanwalt: „Die Vergewaltigung war beendet. Es war alles vorbei.“ Richter: „Woher wollen Sie das wissen, daß die Gefahr vorüber war? Er hatte die Angeklagten mit der Stange bedroht und mehrfach vergewaltigt.“ Staatsanwalt: „Die Angeklagten haben nicht ausgesagt, daß der Angreifer sie töten wollte.“

Das Gericht in Famagusta ist in seinem Urteil der Argumentationslogik des Staatsanwaltes gefolgt, wonach erst unmittelbare Todesgefahrt eine Notwehrsituation schaffe, die erlaube, den Angreifer zu töten. Einmal rutscht es Staatsanwalt Erdag aus dem Mund: „Vielleicht hätte er noch ein weiteres Mal eine Vergewaltigung angestrebt, aber ein Mord an den beiden Angeklagten war ihm nicht im Sinn.“ Trotz des in den Gerichtsakten dokumentierten brutalen Kampfes während und nach der Vergewaltigung am Strand von Yeni Erenköy zieht der Staatsasnwalt eine abstrakte Grenze zwischen erlaubten Mitteln der Notwehr und der Tötung: Die Verhältnismäßigkeit der Mittel war gewahrt, als die Angeklagten mit Stangen auf den ebenfalls mit Zeltstangen bewaffneten Angreifer einschlugen. „Zwei gegen einen. Statt des Gürtels hätten sie mit Stangen weiterschlagen können“. Ein obskurer Satz.

Das Revisionsgericht wird - höchstwahrscheinlich vor Beginn der Justizferien am 2. Juli - sein Urteil fällen. Die Verteidigung plädiert auf Freispruch, daß Notwehr vorgelegen habe. „Wenn ich Ute und Melani spreche, darf ich nicht von Hoffnung reden. Dann fangen sie zu zittern an“, erzählt am Ende des Verhandlungstages Gisela Loh. „Was ist, wenn auch diese Hoffnung zerstört wird?