: QUEERBEET GELESEN
■ VON ALBERT WALTER: Mysotis/Neue deutsche Literatur/Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen/Schreibheft/Weimarer Beiträge/Merkur
Wer gerne in Antiquariaten stöbert, wird immer wieder auf kleinformatige Ausgaben von Goethe bis Nietzsche stoßen, auf denen „Feldpostbücherei“ oder „Kriegsausgaben“ steht. Verena Hoenig und Peter Müller haben sich ein wenig umgetan und sind dem Thema „Lektüreversorgung der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg“ nachgegangen. Eine ihrer Schlußfolgerungen: „Das Leseverhalten der Soldaten änderte sich während der vierjährigen Kriegsdauer. In der Zeit des Aufbruchs und des Vormarsches spielte das Buch keine große Rolle, es hatte vorerst nur symbolischen Charakter. 1916 dann, im Stellungskrieg bei Verdun, änderte sich das jedoch schlagartig. Die Siegeszuversicht war verschwunden, die Soldaten begannen jeden Zeitungsfetzen aufzugreifen, sie lasen, um zu lesen. Angesichts der Todesangst waren sie dankbar für philosophische Schriften und die Heilige Schrift. Leichte Lektüre und vor allem Kriegsbücher lehnten sie jetzt strikt ab: 'Schickt uns Bücher, aber nicht vom Krieg, den machen wir selber!'“ Der hier so by the way behauptete Zusammenhang zwischen philosophischem Interesse und Grabenkrieg, dürfte noch ganze Generationen friedensbegeisterter Philosophieprofessoren um ihren Schlaf bringen. Die Existenzschwafler dagegen werden die Ausführungen dankbar als Munition für ihre Grabenkriege verwenden. Im selben Heft von Mysotis - Zeitschrift für Buchwesen findet sich eine detaillierte Darstellung von „100 Jahren Editionsgeschichte der Nachlaßfragmente Friedrich Nietzsches“, eine „Tragikomödie in fünf Akten, einem Vorspiel und einigen Zwischenspielen, vor und hinter den Kulissen“, kurzweilig und informativ aufgeschrieben von Ellen König. Im Zentrum steht natürlich Elisabeth Förster, Nietzsches Schwester, die nachdem ihr Plan, eine Kolonie Nueva Germania in Paraguay zu gründen, gescheitert war, heim ins Reich kehrte und ihren kranken Bruder kolonisierte und dessen Nachlaß noch zu seinen Lebzeiten in - ihr - Gold verwandelte.
Im Mai-Heft der in Ostberlin erscheinenden Zeitschrift neue deutsche literatur wird aus dem demnächst im Mitteldeutschen Verlag herauskommenden Band 2 seiner „Schriften“ ein Gedicht von Karl Mickel veröffentlicht, das zu lang ist, um es hier ganz der taz-Öffentlichkeit zu übergeben, auf das aber doch unbedingt hingewiesen werden muß. „Paragraph Aids“ heißt das Poem, aus dem wenigstens ein paar Zeilen zitiert seien: „Aus der Erwägung heraus/ Daß unmerkliche Defekte der Schleimhäute nie ganz ausgeschlossen werden können/ Unmittelbar vor Gebrauch dem Container den Gummi entnehmen/ Ihn, den Gummi, prüfen, unter der Lampe/ Und, sobald wir uns von der Unversehrtheit des Gummis überzeugt haben/ Ihn, den Gummi, die Innenseite nach innen! über den Schwanz ziehen./ Wir sollen daran denken, daß jedoch die Sekretion noch nicht begonnen haben darf/ Wir sollen durch das Überziehen des Gummis das Vorspiel nicht unterbrechen/ Sondern das Überziehen des Gummis als Teil des Liebesspieles betrachten/ Sie soll aber die Nägel kurz und rund halten/ Weil spitze Nägel den Gummi perforieren könnten/ Und weil alle Theorie grau ist/ Soll ich doch besser das Überziehen des Gummis mit der Verabredung üben/ Sie soll immer einige Gummis in der Handtasche bei sich führen/ Weil ich ihr das im entscheidenden Augenblick sicherlich danken werde./ Sie soll den Gummi in den Mund nehmen/ Falls ihr/mein Wunsch auf fellatio sich als unbezwinglich erweisen sollte./ Ich soll umgehend den Schwanz aus der Dame zurückziehen/ Sobald seine aktiven Maße nach dem Vollzug im mindesten zu schwinden drohen...“ Ihren vollen Liebreiz entfalten die Zeilen freilich erst, wenn man sich daran erinnert, wie virtuos vor Jahren noch ähnlich didaktisch die Klassenfrage in freien Rhythmen oder strengen Reimen den Massen näher gebracht wurde.
Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen heißt die Zeitschrift. Die neueste Nummer beschäftigt sich mit dem Thema „Alternativökonomie: Zwischen Traum und Trauma“. Zahlreiche Beiträge in erster Linie zur wirtschaftlichen unserer (des tazlers) Lebenswelt. Einige Autoren bieten Verblüffendes, andere mehr Konventionelles. Verblüfft hat mich: „Unsere Ergebnisse widersprechen der Annahme, daß selbstverwaltete Betriebe Überlebenschancen vor allem in 'Marktnischen‘ besäßen, wo Konkurrenzmechanismen nicht oder nur gering wirkten. Hinsichtlich der ökonomischen Bestandssicherheit der Betriebe und der Reproduktionssicherheit der Mitarbeiterinnen konnten wir feststellen, daß günstigere Bedingungen in den Betrieben gegeben waren, die gerade nicht bzw. nich mehr in einer sogenannten 'Nische‘ arbeiten. Selbstverwaltete Dienstleistungsbetriebe - und insbesondere Kneipen und Cafes/ Restaurants - sind aufgrund ihrer Ausrichtung auf spezifische Kundenkreise noch am ehesten in konkurrenzverdünnten Räumen tätig. Aber finanzielle Konsolidierung gelingt diesen Betrieben nur geringfügig und die Einkommenssituation ihrer Mitglieder ist in Relation zu anderen Wirtschaftsbereichen mit Abstand die Schlechteste.“ Einigermaßen überraschend für jeden Berliner Tazmitarbeiter, der ab und zu abends in die Osteria geht. Aber in Ostwestfalen-Lippe mag das wirklich so sein. Aus einem einfachen Grund: je weniger Szene, desto schlechter gehen Szenekneipen.
Die Nummer 33 von Schreibheft - Zeitschrift für Literatur prunkt mit zwei Hauptattraktionen. Zehn Seiten Georges Perec „Träumen von Räumen“, zwanzig Seiten „Die Gehaltserhöhung“ und ein Gespräch mit demselben Autor. Sechzig Seiten von und über Witold Gombrowicz sind der zweite Schwerpunkt. William Gaddis‘ „J R goes to Washington“, ein Fragment aus dessen virtuosem gleichnamigen Dialogroman, könnte man da fast übersehen. Da ist Gombrowiczs Frage „Besteht die Notwendigkeit, ein Ministerium für erotische Belange zu gründen?“. Nein, er beantwortet sie nicht, aber sein agitatorischer Text ruft auf zu einer völligen Umwandlung der erotischen Gewohnheiten Amerikas. Er empfiehlt dem neuen Kontinent die europäischen Erfahrungen, die Männerbündelei als Heilmittel: „Die männliche Schönheit, die männlichen Gewohnheiten, Mythen und Formen des Zusammenlebens bilden sich zwischen Männern heraus. Die spezifisch männliche Schönheit entsteht in der Kameradschaft, der Vertrautheit zwischen Klubmitgliedern, in den beruflichen Vereinigungen und korporativen Zerstreuungen. In der Schule schaffen die jungen Menschen (gemeint sind die jungen Männer) sich ihre eigenen Mythen, Gewohnheiten und eine eigenständige Sprache, und sie sind ihrem Stil so treu, daß keiner von ihnen diesen verriete, auch nicht für die schönste Frau der Welt. Auf ähnliche Weise schaffen die Männer in der Armee sich eine eigene Welt, für die sie sich bisweilen aufs heftigste begeistern... Ein in dieser Schule geformter Mann wird sein ganzes Leben lang ein Kapital an gesunder Verrücktheit besitzen, das ihn vor Traurigkeit, Zynismus oder Langeweile schützen wird. Warum trifft Gleiches nicht auf Südamerika zu? Weil hierzulande die Frau den Mann so vollständig maskiert, daß er ihr Sklave wird.“ Kurios genug sind diese Bemerkungen, die ein noch merkwürdigeres Licht auf diesen Emigranten aus dem Kommunismus werfen. Noch merkwürdiger scheinen sie einem, wenn man bedenkt, welche Rolle gerade in der argentinischen Literatur die Männergemeinschaft spielt.
Im Aprilheft der Weimarer Beiträge, der wohl wichtigsten literaturtheoretischen Zeitschrift der DDR, veröffentlicht Helmut Hanke in seinem Beitrag „Massenmedien im kulturellen Alltag“ Zahlen über die Mediengewohnheiten der DDR-Bürger. 28,6 Stunden ist der Fernsehen in einem DDR -Durchschnittshaushalt in der Woche an. In Arbeiterhaushalten sind es 29,3 Stunden, bei Angestellten 27,3, bei LPG-Mitgliedern 31,3, bei Rentnern 28,7 Stunden. Die soziale Differenzierung ist minimal. Das Fernsehen erscheint dem westlichen Beobachter darum leicht als „das“ kommunistische Medium. Der Autor zitiert Enzensberger: „Der Zuschauer ist sich völlig darüber im Klaren, daß er es nicht mit einem Kommunikationsmittel zu tun hat, sondern mit einem Mittel zur Verweigerung von Kommunikation und in dieser Überzeugung läßt er sich nicht erschüttern. Gerade das, was ihm vorgeworfen wird, macht in seinen Augen die Chance des Null-Mediums aus.“ Hanke sieht diese Gefahr auch für die Medien im realexistierenden Sozialismus, er sieht auch, daß der Kampf gegen die realexistierende Langeweile mit Parolen allein nicht zu führen ist. Sein positives Beispiel, der Film „Einer trage des anderen Last“, zeigt, daß er das Problem nicht verstanden hat. Es geht um die im Hintergrund des Zimmers ständig flimmernde Kiste, um das Medium Fernsehen, nicht um einen Film, nicht einmal um eine Sendung. Die Leute schalten ein um abzuschalten. Darauf hat Enzensberger hingewiesen. Da geht der Trend hin. Wer sich einschalten will, muß das Ding erstmal abschalten. aber vielleicht ist dieses realexistierende Mißverständnis des realexistierenden Professors Helmut Hanke ja nur ein Indiz für die Zustände im realexistierenden Sozialismus.
Wer Ralf Dahrendorf noch nie gelesen hat, hier hat er eine Gelegenheit, ihn in Höchstform kennenzulernen. Im Juni -Merkur ist ein bewunderswerter Artikel über „Zeitgenosse Habermas“. Er plaudert darin über den alles andere als freundlich-humanen Umgangston am Frankfurter Institut für Sozialforschung: „Adorno teilte mir in der ersten Stunde des ersten Tages meiner ersten Anstellung als Assistent mit, irgendwo oben im Haus arbeite ein 'stupider Empiriker‘ am Material des 'Gruppenexperiments‘ zur autoritären Persönlichkeit im Nachkriegsdeutschland; ich sollte mir doch das Material vornehmen und durch eine bessere Auswertung beweisen, daß der Kollege ein Dummkopf sei und alsbald entlassen werden müsse.“ Dahrendorf ging hoch und lernte so Jürgen Habermas kennen. Dahrendorfs Artikel ist ein Meisterstück in der Kunst Bewunderung mit kleinen Bosheiten zu würzen. Was mag Habermas davon halten, daß Dahrendorf seine „Theorie des kommunikativen Handelns“ neben Hans Küngs Gang durch die Geschichte der Gottesbeweise stellt? Sehr schön auch, wenn Dahrendorf nach fünf Zeilen Habermas-Zitat meint, „am Ende indes sagt er etwas durchaus Einfaches“ und in zehn Zeilen dieses Einfache versucht, einfach zu sagen. Was hier wie eine kleine Sottise wirkt, ist die wirkliche Hommage an den großen Konkurrenten. All die lobenden Worte, die schönen Perioden, in denen er den kritischen Zeitgenossen Habermas lobt, was sind sie im Vergleich zu der schönen Bemühung, was dieser in seiner Sprache gesagt, in die eigene um so vieles kommunikationsfreudigere zu übersetzen? Von Habermas selbst stammt der einleitende Essay des Heftes: „Volkssouveränität als Verfahren“. Eine Reflexion über Demokratie und Aufklärung, zweihundert Jahre nach dem entscheidenden Bruch. „Das Revolutionsbewußtsein von 1789 ist die Geburtsstätte einer Mentalität, die geprägt wird durch ein neues Zeitbewußtsein, einen neuen Begriff der politischen Praxis und eine neue Legitimationsvorstellung.“ Damit setzt sie ein. Sie klingt aus in der uns ganz und gar unmöglich vorkommenden Vorstellung einer „auf ganzer Breite intellektuell gewordenen politischen Kultur.“
Mysotis -Zeitschrift für Buchwesen, 1/ 1989, Walpodenstraße 23, 6500 Mainz.
neue deutsche Literatur, Mai 1989, hrsg. vom Schriftstellerverband der Deutschen Demokratischen Republik, Friedrichstraße 169/170, 1086 Berlin.
Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Heft 2/ 89, c/o Thomas Leif, Taunusstraße 66, 6200 Wiesbaden.
Schreibheft - Zeitschrift für Literatur, Heft 33, Rigodon Verlag, Nieberdingstraße 18, 4300 Essen 1.
Weimarer Beiträge - Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie, Heft 4/ 1989, Aufbau-Verlag, Französische Straße 32, 1080 Berlin.
Merkur - Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Juni 1989, Angertorstraße 1a, 8000 München 5.
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