: Neue „Rosen ohne Blüten“
■ Ein Text des chinesischen Schriftstellers Lu Hsün£ und ein Kommentar aus aktuellem Anlaß
Hans Christoph Buch
(...)
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Am 18. März im 15. Jahr der chinesischen Republik befahl die Regierung von Duan Qirui mit Gewehren und Säbeln bewaffneten Soldaten, mehr als hundert junge Leute, die unbewaffnet zum Regierungspalast gekommen waren, einzukreisen und zu massakrieren. Und ein Dekret wurde herausgegeben, in dem sie als „Aufrührer“ beschimpft wurden.
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China wird aufgefressen von Tigern und Wölfen, aber niemand kümmert sich darum. Die einzigen, die sich darum kümmern, sind ein paar jugendliche Studenten, die eigentlich in Ruhe studieren sollten, aber nicht ruhig bleiben können in solch einer Situation. Wenn die Herrschenden auch nur eine Spur von Gewissen hätten, hätten sie dann nicht ihr eigenes Verhalten überprüfen und das bißchen Verantwortungsgefühl, das noch in ihnen steckt, in die Tat umsetzen müssen? Statt dessen ließen sie die Studenten massakrieren! (...)
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Wenn China nicht zugrunde geht, dann hält die Zukunft, wie die Geschichte uns lehrt, für die Mörder eine böse Überraschung bereit: Dies ist nicht das Ende, sondern der Anfang einer neuen Entwicklung. Lügen, mit Tinte geschrieben, können niemals Fakten auslöschen, die mit Blut geschrieben wurden.
Blutige Schuld wird mit gleicher Münze beglichen.
Je mehr Zeit vergeht, desto höher die Zinsen!
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Das sind alles leere Worte. Wie machtlos ist doch alles Geschriebene! Kugeln haben das Blut junger Menschen vergossen. Dieses Blut läßt sich weder austilgen durch mit Tinte geschriebene Lügen, noch läßt es sich ausschmücken durch mit Tinte geschriebene Grabreden; keine Macht der Welt kann es unterdrücken, denn es ist stärker als Verrat oder Tod. 18.März 192
Der dunkelste Tag sei
der Gründung der Republi
Die Aktualität dieses Textes liegt auf der Hand. Kurz nachdem er ihn schrieb, mußte Lu Hsün untertauchen, um sich der Verfolgung durch die nordchinesischen Militärmachthaber zu entziehen - und ähnlich wie die Pekinger Studenten und ihre intellektuellen Wortführer heute. Nur mit dem Unterschied, daß die Zahl der Todesopfer damals geringer war - dem Schießbefehl des „nördlichen Kriegsherrn“ Don Qirui fielen 47 Studenten zum Opfer - und daß das Untertauchen im vorrevolutionären China leichter war als in der Volksrepublik, wo das Staatsfernsehen die Bürger zu revolutionärer Wachsamkeit, sprich: Denunziation auffordert. Obwohl er nach dem Putsch der Guomindang gegen die Kommunisten erneut fliehen mußte und obwohl die Regierung einen Haftbefehl gegen ihn erließ, konnte Lu Hsün seine literarische Arbeit unbehindert fortsetzen und starb 1936 im Bett - nach einem heftigen Streit mit der kommunistischen Partei, deren Führung ihn als Trotzkist bechimpfte und erst nach seinem Tod rehabilitierte. Lu Hsüns Werke haben die japanische Invasion und den langen Marsch, Krieg und Bürgerkrieg, Revolution und Konterrevolution ebenso überdauert wie den Bildersturm der chinesischen Kulturrevolution, der nicht nur unersetzliche Kulturwerte, sondern auch Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Ob er selbst die politischen Fraktionskämpfe und ideologischen Wechselbäder im nachrevolutionären China überlebt hätte, ist ungewiß: Seine Freunde und Schüler wurden nach der Kampagne „Laßt hundert Blumen blühen und hundert Denkschulen miteinander wetteifern!“ verhaftet und in Umerziehungslager gesteckt, während Lu Hsün von Mao, dem er nie begegnet ist, aufs Podest gehoben und zum heroischen Denkmal stilisiert wurde - seinem Vorbild Maxim Gorki ist es unter Stalin noch schlechter gegangen.
Dem eingangs zitierten Text wäre nichts hinzuzufügen, gäbe es nicht in unserer näheren Nachbarschaft Leute, die den Einsatz der Armee gegen unbewaffnete Demonstranten gutheißen und die Propagandalüge von der Niederschlagung der Konterrevolution zur Ultima ratio der Geschichte erklären. Hier ist an erster Stelle die Volkskammer der DDR zu nennen, deren Blockparteien die militärische Niederwalzung des friedlichen Protestes auf dem Tienanmen nicht nur gebilligt, sondern geradezu enthusiastisch begrüßt haben - ohne Gegenstimmen, versteht sich. Die Frage, ob die Abgeordneten dabei ihrem Gewissen gefolgt sind, erübrigt sich: Falls sie jemals ein solches besaßen, haben sie es längst an die herrschende Partei delegiert. Anstatt aus deren blutiger Geschichte - vom 17.Juni 1953 über den Ungarnaufstand bis zum Prager Frühling - die richtigen Lehren zu ziehen, haben sie sich mit ideologischem Beton luftdicht gegen jede Erfahrung abgeschottet und das selbständige Denken durch Orwellsches Double-think ersetzt, bei dem jedes Wort das Gegenteil von dem meint, was es besagt: Die Revolution wird so zur Konterrevolution - und vice versa. Dabei geht es gar nicht um China: Durch ihre brutale Reaktion signalisieren die DDR-Oberen ihren Untertanen, daß sie nicht nur Chinesen, sondern notfalls auch die eigene Bevölkerung zum Abschuß freigeben würden. Nur so ließe sich ihr realsozialistischer Karren noch aus dem Dreck ziehen. Das ist nicht mehr der anonyme Staatsterror, mit dem unter Stalin oder Mao echte und eingebildete Staatsfeinde liquidiert wurden: Es ist die nervöse Überreaktion einer überalterten Führungsclique, die ihre Macht und ihre Privilegien bedroht sieht und die Zeichen der Zeit nicht mehr versteht. Und wieder einmal bestätigt sich auf deprimierende Weise die linkem Wunschdenken hohnsprechende Erfahrung, daß eine gut bewaffnete und organisierte Minderheit genügt, um der Mehrheit ihren politischen Willen aufzuzwingen und ein Milliardenvolk in die kommunistische Steinzeit zurückzukatapultieren.
Aber nicht nur in der fernen DDR, auch bei uns gibt es Leute, die sich nichts sehnlicher wünschen, als die von Gorbatschow eingeleitete Politik der Öffnung und des Umbaus gewaltsam zu beenden, und zwar lieber heute als morgen. „Die Sowjetunion treibt (...) ins andere, kaptitalistische Lager; selbst ein Putsch der Roten Armee könnte die Dynamik der Entwicklung nur stören, nicht brechen. Polen, Ungarn, Jugoslawien, demnächst die Tschechoslowakei und Bulgarien sind ihr voraus oder werden folgen. In China marschieren die Studenten, die künftige Bourgeoisie, unterm Beifall der Massen übern Platz des Himmlischen Friedens, während das jugendliche Lumpenproletariat in seinen riots bereits ein Stück absehbarer Zukunft seiner Klasse lebt: Bronx von Shanghai.“ ('Konkret‘, Juni 89). Was er vom Freiheitsstreben unterdrückter Völker hält, hat 'Konkret'-Chef Hermann Gremliza, der Verfasser dieser unsäglichen Sätze, an gleicher Stelle unmißverständlich ausgesprochen: „Die widerlichen Stammesfehden religiös oder rassisch verblendeter Georgier, Armenier, Aserbeidschaner oder Balten belegen, was in den mehr als 70 Jahren nach dem roten Oktober nicht geschehen sein kann.“ Das ist politische Pornographie, für die das Adjektiv stalinistisch noch zu schmeichelhaft wäre: Aus religiös oder rassisch verfolgten Minderheiten werden „religiös oder rassisch verblendete“, und aus dem Bündnis, das Hitler mit Stalin gegen die Westmächte einging, wird „der Pakt, den nicht Stalin, sondern die Westmächte de facto mit Hitler gegen die Sowjetunion geschlossen hatten“. Orwell läßt grüßen! Und was schlägt Gremliza vor, um den Flurschaden im realsozialistischen Lager zu begrenzen? Panzer wie auf den Straßen von Peking oder Giftgas wie auf den Straßen von Tbilissi? Weit gefehlt. Die DDR soll als Biotop unter Naturschutz gestellt werden, denn auf die Rote Armee ist heutzutage genausowenig Verlaß wie auf die Kubaner, die Gremliza im Urlaub bei der Arbeit beobachtet hat:
„Auf Cuba, beispielsweise, stehen die Söhne der von viehischer Ausbeutung in den Plantagen befreiten Sklaven auf der Baustelle zu viert rauchend und plaudernd um einen Fünften herum, der wie abwesend mit der Kelle den Speis umrührt; nach Schluß der Veranstaltung, die sie dennoch Arbeit nennen, blicken sie begierig auf die Waren, die das US-Fernsehen ihnen vorführt, und schieben, daß sie die entbehren, auf den Sozialismus.“
Gremlizas Rundumschlag offenbart ein historisches Dilemma, dem sich zusammen mit der Gerontokratie in der DDR auch ein Teil der westdeutschen Linken gegenübersieht: Sie verstehen die Welt nicht mehr. Dieselbe DKP, die Glasnost in ihren eigenen Reihen eine Abfuhr erteilt, versucht sich auf dem Bonner Marktplatz an die Popularität von Michail Gorbatschow anzuhängen. Dieselbe Westberliner Szene, die sich über die Diskriminierung von Türken in Kreuzberg empört, verliert kein Wort über die Abschiebung von 20.000 Türken aus Bulgarien, die bei der erzwungenen Ausreise nicht mal ihre Eheringe mitnehmen dürfen. Und dieselben Regionalisten, die sich für die Autonomieforderungen von Basken und Bretonen, Korsen und Iren stark machten, schütteln heute bedenklich den Kopf, wenn Polen und Ungarn, Litauer und Letten, Georgier und Armenier ihre politische Zukunft selbst bestimmen möchten. Hier wird nicht allein mit zweierlei Maß gemessen - dahinter steckt ein rassistisches Vorurteil, wie es ganz unverblümt in Gremlizas Klage über die arbeitsscheuen Kubaner zum Ausdruck kommt. Das zugrunde liegende Verhaltensmuster ist bekannt: Solange die Unterdrückten sich so verhalten, wie in den Lehrbüchern der Revolution vorgesehen, vergießen wir Krokodilstränen für sie. Beginnen sie aber, demokratische Rechte und Freiheiten einzuklagen, die für die Bewohner der Ersten Welt längst selbstverständlich geworden sind, werden sie als Lumpenproletarier, Faulenzer und Kriminelle diffamiert. Der beste Chinese ist dann wieder ein toter Chinese.
Von diesem gewöhnlichen Faschismus, der sich von seinem rechten Pendant nur noch durch die ideologische Begründung unterscheidet, handelt, unter anderem, der oben zitierte Text von Lu Hsün.
* Lu Hsün ist nach neuer Schreibweise Lu Xun.
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