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Ein Leben lang für „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“

■ Die Autobiographie „Prager Frühlingserwachen“ des Wirtschaftstheoretikers Ota Sik ist nicht nur die Geschichte seines Lebens, sondern auch ein Stück Partei- und Theoriegeschichte

Ota Sik saß in einem türkischen Dampfbad und schwitzte. Blasen blubberten. Dampf stand in der Luft. Thermale Quellen speisten das Bassin. Feuchte Hitze stach in Nasen und nährte saftige Pflanzen. Doch auch hier hieß es kämpfen. Denn ein schwitzender Ökonom Haberler aus Österreich machte das Wasser streitig. Warf mit ökonomischen Begriffen nach seinem sozialistischen Widersacher, der in der Badehose am Beckenrand saß. Aber Sik ließ sich von antikommunistischen Feindseligkeiten und Haßtiraden nicht einschüchtern. Er tauchte nicht unter, hier nicht. Das Wasser ist für alle da. Und die Arbeitslosigkeit in Österreich, die Klassengesellschaft. Stichworte, die tönend von den verzierten türkischen Kachelwänden wiederhallten und Haberler schweratmend unter Wasser trieben.

Das ist eine der eher heiteren und angenehmeren Episoden aus den 50er Jahren in dem kampf- und entbehrungsreichen Leben von Ota Sik das nun als Autobiographie in gebundener Ausgabe vorliegt und nachzulesen ist. Prager Frühlingserwachen nannte der heute in St. Gallen lebende und lehrende Wirtschaftstheoretiker Sik seine Memoiren. Das liest sich wie ein spannendes Geschichtsbuch.

Sik, 1919 in Pilsen geboren, erinnert sich hier an seine Jugend in Prag in den 30er Jahren, an den Widerstand gegen die faschistische Besatzung, die darauffolgende Verhaftung und die mit ständiger Todesangst verbundene Zeit im Konzentrationslager Mauthausen. Er reflektiert kritisch die Versuche und Umstände, in den 50er Jahren eine kommunistische Gesellschaft nach stalinistischem Vorbild aufzubauen. Er berichtet von seinem daran anschließenden langjährigen und zähen Ringen um Wirtschaftsreformen, die dann als und im Prager Frühling mit Dubcek realisiert werden konnten.

Die Zeit nach der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen der „Warschauer Pakt“ -Staaten wird weniger ausführlich behandelt. Das hat seinen Grund in der an außergewöhnlichen Ereignissen eher armen Forschungstätigkeit des Ökonomen in den 70ern, als deren Ergebnis die Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Modells einer sozialistischen und demokratischen Wirtschaftsordnung zu verzeichnen ist.

Früh schon wurde Ota Sik als Schulabgänger Mitglied der KP der Tschechoslowakei. Die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit und sozialer Gegensätze, die Sik persönlich zu spüren bekam, veranlaßten ihn an der Seite einer kommunistischen Partei für eine bessere und gerechtere Gesellschaft einzutreten. Trotz Arbeitstätigkeit und Fortbildungskursen fand der Prager Jungkommunist noch Zeit und Muße, Franz Werfel, Max Brod, Rilke und Kafka zu lesen.

Öfter verließen er und seine Freundin noch spät abends die gemeinsame Dachkammer, um in der Prager Altstadt in verschlissenen und verrauchten Kellerlokalen Jazzkonzerte zu besuchen. In dieser Zeit träumte Sik von einer Zukunft als bildender Künstler, verehrte Max Beckmann, malte viel und nahm Stunden für Zeichnen und Malen.

Dann kamen Soldaten, Faschisten, Deutsche, Wehrmacht. Schluß war mit Jazz und Beckmann. Der junge Kommunist Sik ging in den Untergrund, wurde Kämpfer im Widerstand, organisierte geheime Treffen, druckte Flugblätter und wurde verhaftet. Das hieß KZ, hieß Mauthausen. Aber der Kommunist war auch ein Jude. Das hieß Vernichtungslager. Nur ein Zufall rettet ihn. So schleppte sich Sik durch Steinbrüche, versuchte im Arbeitslager Strukturen aufzubauen und Kontakte zu anderen Kommunisten zu knüpfen, wie zum Beispiel zu dem späteren KP-Chef Novotny.

Nach dem Krieg wurde Sik von der KPC stark gefördert, da fähige und kompetente Leute gebraucht wurden. Schnell stieg Sik vom Studenten an der Hochschule für Politik und Sozialwesen in Prag, über die Erlangung eines Lehrstuhls für Ökonomie an der Parteihochschule zum Professor am Institut für Gesellschaftswissenschaften des ZK auf. Gleichzeitig mit seinen engagierten Studien, seinem beruflichen Weiterkommen und dem Aufstieg in der Parteihierarchie, machten sich bald Zweifel breit an der absoluten Richtigkeit der offiziellen Parteilinie.

Denn nach einigermaßen freien Wahlen im Jahre 1946 wurden andere Parteien schnell verboten, und auch in der CSSR kam es zu einer Zwangsvereinigung mit der Sozialdemokratie. Das bedeutete die Erschaffung eines stark an der stalinistischen UdSSR orientierten Gesellschaftssystems. Das schloß die stalinistischen Umgangsformen innerhalb der Partei mit ein: In einer Säuberungswelle wurden Anfang der 50er Jahre zahlreiche führende Kader - begleitet von teils offen antisemitischen Hetzkampagnen - verhaftet und kurze Zeit später hingerichtet.

Doch erst die auch durch schiefe Statistiken und gefälschte Pläne nicht mehr zu kaschierende allzu offensichtliche Stagnation und Unterentwicklung ließen Sik über die tieferen, strukturellen Gründe der Mißwirtschaft nachdenken. Sik suchte nach Auswegen, schlug Dezentralisierung und mehr Eigenverantwortlichkeit der Betriebe vor. Er beharrte auf mehr und echten Mitbestimmungsrechten. Die Parallelen zu Perestroika und Gorbatschow sind nicht zu übersehen.

Da zu selben Zeit auch in der UdSSR unter Chruschtschow eine „Tauwetter-Periode“ Reformüberlegungen hervorrief, ließ man Sik in der CSSR auch aufgrund mangelnder Alternativen gewähren. Nach langjährgem und zähem Ringen stimmte die Partei 1962 schließlich der Gründung einer Forschungskommission zu, der Sik vorstand und deren Mitglieder demnach auch von Sik bewußt nach ihrem Reformwillen herangezogen wurden. Die hier erarbeiteten Vorschläge zu ökonomischen Strukturveränderungen boten später die Grundlage des ökonomischen Programms des Prager Frühlings mit der Einführung einer makroökonomischen Verteilungsplanung, sozialistischer Marktwirtschaft mit antimonopolistischer Zielrichtung und der Schaffung von Selbstverwaltungsorganen in den Betrieben.

Diese Gedanken führte der tschechische Wirtschaftstheoretiker in den 70er Jahren fort, nachdem er aufgrund der Entmachtung aller führender Reformpolitiker und Repräsentanten des Prager Frühlings durch die kommunistischen Besatzungsmächte nach dem August 1968 nach einigem Hin und Her schließlich in die Schweiz emigrierte. Hier im kapitalistischen Westen entwickelte er ein wissenschaftlich fundiertes Modell eines funktionalen Wirtschaftssystems, dessen auf einen demokratischen Sozialismus hinzielende Richtung hier nur grob mit den Stichworten Kapitalneutralisierung, selbstverwaltete Mitarbeitergesellschaften und makroökonomische Verteilungsplanung umrissen werden kann. Nachzuschlagen sind diese Stichwörter in Siks vor zehn Jahren erschienenem, unter Mithilfe eines Mitarbeiterstabs entstandenem Hauptwerk Humane Wirtschaftsdemokratie oder in dem 1985 veröffentlichten schmaleren Buch Ein Wirtschaftssystem der Zukunft. Siks wirkliche Leistung besteht nicht zuletzt darin, daß er sich vor und nach seiner Emigration nie als Kronzeuge für die massenhaft vorhandenen Antikommunisten im Westen mißbrauchen ließ. Nie wandte er sich - ebensowenig wie Alexander Dubcek - von den Zielen eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ ab, immer widersprach er Theoretikern, die bis heute eine zwanghafte Verbindung zwischen Sozialismus und Unfreiheit, zwischen klassenloser Gesellschaft und wirtschaftlicher Unterentwicklung behaupten.

Stephan Käppler

Sik, Ota: „Prager Frühlingserwachen. Erinnerungen“, Herford 1988, 384 Seiten, 42 DM; Busse & Seewald-Verlag

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