: „AmazonierInnen, rettet die Nordsee“
Wenn die EuropäerInnen nicht einsichtig sind, sollen sie durch ein Schulden- moratorium unter Druck gesetzt werden, damit sie ihre Ökoprobleme lösen ■ D O K U M E N T A T I O N
Auf die europäische Kritik an der Abholzung der amazonischen Tropenwälder hat die brasilianische Regierung mit der Kampfparole „Amazonien-gehört-uns“ geantwortet. Der Journalist Julio Cesar Barrios, der für das größte brasilianische Nachrichtenmagazin, die wöchentlich erscheinende „Veja“ schreibt, hat noch etwas hinzuzufügen: „Auch die Nordsee gehört uns!“. Ein polemischer Diskussionsbeitrag zu den vom 5. bis 11. Juli in Berlin stattfindenden Amazonientagen. Die von verschiedenen Umweltorganisationen veranstaltete Tagung hat als Schwerpunktthemen den Schutz des Tropenwaldes und die Verteidigung der Völker Amazoniens.
Amazonien ist bei weitem nicht das einzige ökologische Problem unseres Planeten. In den Vereinigten Staaten und in Europa sind in jahrhundertelanger unverantwortlicher Weise die Wälder zerstört worden. Der Schadstoffausstoß hat brutrale Dimensionen angenommen. Meister darin sind die Amerikaner. Und dann gibt es da noch das Stückchen Meer zwischen England und Skandiavien, die sogenannte Nordsee, die im Sterben liegt. Industrieller und radioaktiver Müll, aus Tankern und Bohrplattformen, unbehandelte Abwässer und die Chemierückstände der Landwirtschaft werden in enormen Mengen in die Nordsee gekippt. Sie sind verantwortlich für den Todeskampf der gesamten Nordsee, von den Fischen bis zur reichen Meeresflora. Wird das momentane Tempo beibehalten, dann hat die Nordsee höchstens noch fünf Jahre zu leben, lautet die Prognose von Umweltschützern.
Wir dürfen nicht zulassen, daß dies geschieht. Dieser Fall von Gewässer-Verschmutzung ist skandalös und muß für alle Länder eine Herausforderung sein. Wir haben die dringende Pflicht, gemeinsam eine Schutz-Organisation zu gründen, eine Art „Bank für Nordsee-Schutz“.
Der Tod jeglichen Lebens in diesem 570.000 Quadratkilometer großen Gebiet hat direkte Folgen für die Sauerstoffproduktion auf der Erde. Im Gegensatz zu dem, was man die Menschen gauben machen will, produziert das Meer 90 Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen - Wälder und Urwälder die verbleibenden zehn Prozent. Deshalb dürfen wir den Tod der Nordsee auf keinen Fall hinnehmen. Wir müssen eine Bewußtseins-Kampagne in der Ersten Welt starten.
Trotz des Reichtums, der Industrialisierung und der Kuzltur haben die Menschen in den Nordsee-Abrainerstaaten noch immer nicht begriffen, welchen Schaden sie sich und dem Rest der Welt zufügen, wenn sie das Meer direkt vor ihren Augen - die heute auf andere Gegenden der Welt gerichtet sind endgültig sterben lassen.
Durch die Verschmutzung sind bereits 8.000 Seehunde gestorben. In dieser Region sind Delphine und Wale ausgerottet. Gar nicht zu reden von den irreversiblen Schäden, wie dem Aussterben der verschiedenen Arten von Fischen und Seevögeln, die für diese Gegend typisch waren. Aber das ist nicht alles. Die katastrophale Verschmutzung wird auch ganz direkt die Menschen treffen, die vom Meer leben. Jährlich werden in der Nordsee zwei Millionen Tonnen Fisch gefangen. Selbst wenn die Fischer nicht sterben und den tödlichen Umweltbedingungen widerstehen, werden sie die ganze Vergiftung, deren Opfer sie sind, an ihre Konsumenten weitergeben. Es ist unsere Aufgabe, alle an der Nordsee lebenden Menschen zu warnen, damit sie Vorsorge treffen und beginnen, für die Umwelt in Europa zu kämpfen.
Natürlich wird Brasilien bei der Aufgabe, den Europäern ökologisches Bewußtsein zu vermitteln, auf Widerstände stoßen. Aber wir verfügen über wirksame Druckmittel. Wir können mit einem Teil der Zinsen, die wir unseren Gläubigern für die Auslandsschulden zahlen, die „Bank für Nordsee -Schutz“ aufbauen. Diese Bank würde Projekte finanzieren, die die Quellen der Verschmutzung schrittweise vermindern. So ist beispielsweise das Abwassersystem Großbritanniens noch aus dem vorigen Jahrhundert. Folge ist die weltweit höchste Konzentration von Kolibakterien vor der britischen Küste. Unsere Bank könnte den Engländern ein modernes System zur Behandlung von Abwässern finanzieren und somit eine der Ursachen der Nordseeverschmutzung beseitigen.
Sollten sich unsere Gläubiger weigern, unter diesen Bedingungen zu verhandeln, würden wir ihnen mit einem Moratorium drohen. Wir müssen hart sein und zeigen, daß wir es ernst meinen. Die anderen verschuldeten Länder der Welt könnten sich Brasilien anschließen für eine große Bewegung zur Rettung jener Region. Wir würden eine Art „SOS Nordsee“ ins Leben rufen. Dies wäre Druck genug, die Europäer zum Handeln zu bringen. Allzu schwierig dürfte diese Überzeugungsarbeit nicht sein. Ist es nicht wissenschaftlich bewiesen, daß ohne Wasser und ohne Luft kein Leben möglich ist? Also laßt uns das Wasser schätzen - besonders das der Nordsee. Unsere Warnung wäre so klar wie nur möglich: „Rettet die kleine Lunge der Welt. Die Nordsee darf nicht sterben. Das nächste Opfer können Sie sein.“
Die Völker der nördlichen Hemisphäre sind entwickelt und umsichtig. Sie werden unseren Appell nicht ungehört lassen und sich mit Begeisterung unserer Kampagne anschließen. Außerdem könnten wir auf dem Höhepunkt der Kampagne eine neue Steuer einführen, die eine noch größere Tragweite hätte: Wir würden die verdreckten Meere der ganzen Welt säubern und zusätzlich großangelegte Aufforstungen in Europa, in den USA und in Japan durchführen, wo Grün schon seit Jahrzehnten knapp ist. Unser Volk würde sich mit Sicherheit ohne Klage unter der Last einer weiteren Abgabe krümmen. Wir sind daran gewöhnt. Was würden wir nicht alles tun, damit die Menschheit saubere Luft atmen kann? Nach „SOS Nordsee“ werden wir „SOS Mittelmeer“, „SOS Europäische Flüsse“ und „SOS Amerikanische Wälder“ starten. Unser Appell wird nicht vergeblich sein.
Entnommen aus der brasilianischen Wochenzeitung 'Veja‘ vom 29.März 1989. Übersetzung: Dirk Hoffmann
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