KIND DER LIEBE

■ Eine Weserflußfahrt - einmal anders

Die Weser - Strom und Landschaft zum Wandern, Erleben und Erholen.“ Das Fremdenverkehrsamt in Hann.-Münden wirbt für Ferien am Fluß. „Wuchtige Wehrkirchen grüßen den von der See her Kommenden. Längsseits die kühn in den Strom hineingebauten Hafenanlagen... Es ist ein Dorado für Wasserwanderer. Idyllische Dörfer und romantische Fachwerkstädte, aufgereiht wie Perlen am Weserband... Der Fluß aber bahnt sich heiter kurvend seinen Weg und verführt die Menschen zum Träumen. Oder zum Märchenerzählen.“

Oder zum Märchenerzählen, in der Tat. Denn was hier so überschwenglich angepriesen wird, hat mit der Wirklichkeit kaum mehr gemeinsam als den Namen. Die Wirklichkeit: Die Weser ist eine Kloake und salzig wie das Meer. „Kritisch belastet“ bis „stark verschmutzt“ im O-Ton der Wasserwirtschaftsämter. 30.000 Tonnen Salz, manchmal mehr, schleppt der Fluß täglich in die Nordsee. 60.000 Tonnen Nitrate, 10.000 Tonnen Phosphat, fast 2.000 Tonnen Schwermetall und nicht kalkulierbare Mengen organischer Schadstoffe ergießen sich mit dem Weserwasser Jahr für Jahr in die Deutsche Bucht.

An Bremen, der Weserhauptstadt, schiebt sich die Brühe nur im Schneckentempo vorbei. Durch Ebbe und Flut gedreht und gewendet, vor- und zurückgespült, schafft das Wasser in drei Tagen nur zehn Kilometer Wegstrecke. Bis Bremerhaven braucht es drei Wochen.

Bis 1978 wurde fast die Hälfte der Bremer Haushalte mit Trinkwasser versorgt, das aus aufbereitetem Weserwasser und Grundwasser gemischt war. Dann mußten die Hähne des städtischen Wasserwerks „Auf dem Werder“ kleiner gedreht und 1982 schließlich ganz abgestellt werden: zu sehr war der Fluß versalzen und vergiftet.

Das Schwimmen in der Weser ist nur noch unter Inkaufnahme erheblicher gesundheitlicher Risiken möglich. Denen, die dennoch ein Bad riskieren, drohen nicht nur nach Meinung von „Robin Wood“ „Durchfallerkrankungen, Hautausschläge und Infektionskrankheiten wie Typhus und Paratyphus.

Abwässer, Schadstoffeinleitungen und der Ausbau des Flusses zur Schiffahrtsstraße haben die Pflanzen- und Tierbestände der Weser erheblich dezimiert. 90 Prozent der noch lebenden Fische sind krank. Nach Beobachtungen des niedersächsischen Sportfischerverbandes weist mehr als die Hälfte der gefangenen Tiere Geschwüre auf. Bis zu vier Tonnen tote Fische werden jeden Tag an die Flußufer geschwemmt.

Von rund 200 Berufsfischern, die um die Jahrhundertwende in der Unterweser fischten, sind ganze sechs übriggeblieben. Industrieansiedlungen und staatliche Planungen haben ganze Berufsstände aufgefressen - Fischer und Fährleute, Müller und Schleusenwärter müssen der „wirtschaftlichen Erschließung“ der Weserregion weichen.

Die Nordsee, sagte vor kurzem ein Chemiker, „beginnt bereits in Hann.-Münden“. Dort, wo Werra und Fulda zusammenfließen, hat das Göttinger Wasserwirtschaftsamt für 1986 eine Salzfracht von zwölf Millionen Tonnen ermittelt. Zur Beseitigung dieser Menge müßten 15.000 Güterzüge mit jeweils 40 Waggons eingesetzt werden. Ein Jahr lang alle 35 Minuten ein Zug.

Das Salz stammt aus den an der Werra gelegenen Kalibergwerken. DDR-Anlagen tragen etwa 80 Prozent zu den Belastungen bei. Um brauchbare Grundstoffe für chemische Produkte, zum Beispiel Sprengstoff, herzustellen, werden überflüssige Begleitsalze wie Natriumchlorid aus dem Kali herausgespült und - soweit man sie nicht auf Halden oder im Bergwerk selbst lagert - in die Werra gespült.

Zu den großen industriellen Weserverschmutzern gehört die Bremer Wollkämmerei (BWK) in Bremen-Blumenthal. In acht vollautomatischen Waschstraßen reinigen riesige Siebtrommeln die angelieferte Rohwolle von Exkrementen, Fett, Erde und Pflanzenresten. Zum Waschen wird Grundwasser benutzt. Das mit Wollfetten und sauerstoffzehrenden Waschmittelresten hochbelastete Abwasser geht in die Weser: ca. eine Million Kubikmeter pro Jahr.

Im September '86 gelang „Greenpeace“ ein aufsehenerregender Coup. Während das Aktionsschiff „Beluga“ scheinbar untätig im Fluß dümpelte, führte ein Taucher der Umweltschützer unbemerkt einen Schlauch in ein BWK-Abflußrohr ein. Die an Bord analysierten Proben enthielten u.a. die hochgiftigen Insektizide DDT und Lindan. Da in einer Wollwäscherei der Einsatz solcher Substanzen nicht notwendig, DDT darüber hinaus in der Bundesrepublik verboten ist, müssen die Gifte mit der Wolle nach Bremen gelangt sein. Nachdem sie bereits in den Herkunftsländern der Schafe die Umwelt belastet haben, greifen sie nach ihrer (Wieder-)Einfuhr ein zweites Mal die Natur an.

An der hohen Belastung der Weser mit radioaktiven Stoffen sind die Abwässer aus der Nuklearmedizin mit ihren Zentren in Göttingen, Hannover, Braunschweig und Bremen schuld. Und die drei am Fluß gelegenen Atomkraftwerke in Würgassen, Grohnde und Esensham. Sechzehn verschiedene Radionuklide wurden im Abwasser des Würgassener Siedewasserreaktors festgestellt. 15 strahlende Substanzen waren es in Grohnde.

Die Atomkraftwerke entnehmen der Weser auch große Mengen Kühlwasser. Stündlich bis zu 500.000 Kubikmeter, mehr als alle anderen Verbraucher zusammen. Um durchschnittlich zehn Grad erwärmt wird das Wasser nach Gebrauch zurück in den Fluß geleitet.

„Wenn der Hafen dichtmachen muß“, erklärte schon 1966 der damalige Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen, „gehen in ganz Bremen die Lichter aus“. Tatsächlich ist die Bedeutung des Hafens für Bremens Wirtschaft enorm. Fast untrennbar sind Schiffahrt, Handel, Industrie und Lokalpolitik miteinander verwoben.

10.000 Schiffe nehmen jedes Jahr von der Nordsee Kurs auf die Wesermündung. 500 verschiedene Schiffahrtslinien laufen Bremen und Bremerhaven an. Jeder vierte Bremer Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt mit der Schiffahrt zusammen.

Der Fluß muß darunter leiden. Und ächzt unter der Last der auf den Schiffen anfallenden Altöle und Ölreste, dem sogenannten Bilgenöl. Ladungsreste, Schiffsmüll, Abwässer und unfallbedingte Verschmutzungen tun ihr Übriges.

Doch die Tourismus-Strategen in Hann.-Münden ficht all das nicht an. Bei ihnen ist vom Bilgenöl ebensowenig die Rede wie von Versalzung, Vergiftung mit Schwermetallen oder Überfrachtung durch Düngestoffe. „Ein heiterer, ein liebenswerter Fluß“ bleibt ihnen die Weser. Der eingangs zitierte Prospekt sagt, warum: „Ist er doch, wenn man so will, ein Kind der Liebe.“

Reimar Paul