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GNADENLOS GUT

■ „Das Totenfloß“ von Harald Müller, gespielt vom Szenat für kulturelle Angelegenheiten Berlin

Der Busfahrer, der die Theaterbesucherinnen ins etwas abgelegene Ökowerk Teufelssee fahren sollte, ließ sich nicht überreden. Er wollte lieber zweieinhalb Stunden draußen warten, als sich das Stück anzusehen. „Das Totenfloß“ - das klang nicht gerade nach einem angenehmen Zeitvertreib. Denn niemand läßt sich gerne Dinge sagen, die man nur zu genau weiß. Denn natürlich ist inzwischen jedem Menschen bewußt, daß die Menschheit eines Tages an sich selbst krepieren wird; von der Natur aus gesehen ist die Menschheit ein Krebsgeschwür, gegen das es nur ein Heilmittel gibt: es weiterwuchern lassen, bis es von selbst abstirbt. Jede menschliche Lebensregung, wie Autofahren, eine Bierdose aufmachen oder Wäschewaschen, ist im Grunde genommen eine Bewegung in Richtung Untergang. Wenn man also nichts dagegen tun kann (außer Selbstmord zu begehen), warum soll man vor solchen unangenehmen Tatsachen die Augen aufmachen, warum soll man sich seinen Selbstbetrug rauben lassen? Warum soll man sich auf den Weg ins Ökowerk Teufelssee machen, um „Das Totenfloß“ anzusehen? Ganz einfach: weil es gnadenlos gut gespielt ist.

Im Deutschland des Jahres 2050 unternehmen vier Menschen eine Floßfahrt auf dem Rhein. Das tun sie nicht zu ihrem Vergnügen, sondern um in ein weniger verseuchtes Gebiet zu gelangen. In Xanten ist nämlich damals nur eine Neutronenbombe niedergegangen, die lediglich sämtliche Lebewesen umgebracht, die Natur aber weitgehend geschont hat. Die vier sind Ausgestoßene, die kein Recht haben, in den hermetisch abgeriegelten noch halbwegs bewohnbaren Gebieten zu leben. Nach Xanten zu fahren, war Checkers (Peter Hofmann) Idee. Der hat sich aus Gründen des Umweltschutzes ganz mit einer Plastikhaut umgeben, die ihn gegen die mit zahlreichen Giften versehene Umwelt schützen soll. Er hatte vor der Abfallschleuse eines bewohnbaren Gebietes gewartet, bis ihm Itai (Andreas Erfurth) in die Hände fiel, die Retortengeburt aus dem Genlabor, der als Organspender vorgesehen war und entfernt wurde, weil sein Körper die zulässigen Grenzwerte überschritten hat. Der Checker checkt seine Beute zunächst einmal mit seinen Meßgeräten ab, um dann zu entscheiden, was mit ihr anzufangen ist. Zum Aufessen ist Itai zu sehr kontaminiert, und so verwendet er ihn als Vorkoster und läßt sich von ihm tragen, um möglichst wenig Kontakt mit verseuchtem Boden zu bekommen. Es wäre unfair, jetzt mit moralisch-humanistischen Kategorien zu hantieren, weil es hier ums Überleben in einer feindlichen Welt geht. Reste überlebter Moralvorstellungen finden sich nur bei den anderen beiden. Kuckuck (Norbert Ghafouri) ist ein Neunzehnhunderter, ein Übriggebliebener des 20.Jahrhunderts, der sich als Vogelstimmenimitator, von Vögeln, die schon längst ausgestorben sind, durchschlägt. Bjuti (Susanne Weckerle) sitzt am Ufer des Rheins wie die Lorelei, auf einem Berg zerfallender Bücher auf einem Floß. Sie vegetiert in einem Rauschzustand, herbeigeführt durch die Bücher, die sie eigentlich vernichten sollte, aber in denen sie verbotenerweise zu lesen begonnen hatte, weswegen sie aus der bewohnbaren Zone entfernt wurde.

Die vier Schauspielstudenten der HdK setzten Harald Muellers Stück mit einer Präzision und einer Intensität um, die einen keine Sekunde lang losließ, und das mit einer Mühelosigkeit und Leichtigkeit, wie man sie selten sieht. Hier stimmte schlicht alles: der Veranstaltungsort, ein ehemaliges Pumpwerk, das trotz aller ökologischen Tarnung wie ein unheimlicher Fremdkörper im Grunewald steckt, die hohe Vortragshalle mit den toten Birken rings herum vor den Wänden, von denen die weiße Farbe abblättert, der Kiefernharzgeruch wie von frisch gefällten Bäumen. Unter der Regie von Peter Lackner gelingt es den vieren, die im Stück vorhandenen Untiefen, die zum Verweilen in Plattheiten einladen, zu umschiffen. „Kirschblütenzeit“, „Frühling“ diese „schönen Worte“ sind hier kein postromantischer Kitsch, sondern erbärmliche Fragmente einer für immer verlorenen Vergangenheit. Auch die literarischen Monologe der Bjuti, die sich so sehr von dem mit zahlreichen Anglizismen versetzten Sprachmüll, den die vier normalerweise reden, unterscheidet, weiß Susanne Weckerle mit genau der richtigen Portion Wahnsinn zu versetzen, ohne sie mit unpassender literarischer Bedeutungsschwere zu belasten. Jeder der vier spielte alle nur erdenklichen Feinheiten seiner Rolle aus. Peter Lackners Inszenierung verzichtet auf jeglichen Schnickschnack und beschränkt sich auf das Passende. Sein Gefühl für den Auf- und Abbau von Spannungsbögen ist unglaublich. Als das Floß an die Stelle gelangt, wo Xanten liegt, blicken Checker und Bjuti stumm zum Ufer hinauf. Sie erklären dem erblindeten Itai, was sie sehen: eine hohe Mauer, von der herab MGs auf sie gerichtet sind. Minutenlange bis zum Zerreißen angespannte Stille. Aber keine Schüsse. Das Floß treibt vorbei, ins offene Meer. In schwarze ohrenbetäubende Finsternis.

Draußen ist schwarzgrauer, dichter, feuchter Nebel. „Das ist hundert Prozent Luftfeuchtigkeit“, erklärt jemand. Wer will das wissen. Lieber nicht daran denken, was da sonst noch drin ist. „So - und was tun wir jetzt Schönes?“

Michael Vahlsing

Weitere Vorstellungen am 6.-9., am 13., 15. und 16. sowie vom 20.-23.Juli, jeweils um 20Uhr im Ökowerk Teufelssee am Ende der Teufelsseechaussee. Kartenvorbestellungen: Tel. 623 98 59. Es gibt einen Bustransfer: Abfahrt 19.30Uhr von der Bushaltestelle am Theodor-Heuss-Platz (vor Kaisers).

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