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Swinging Metropolis

■ 33. In den Klauen der Wahrheit

Kann mir mal jemand verraten, was Wahrheit ist und wo sie liegt? Ich fand sie nit im Wein noch zwischen Buchdeckeln. Vielleicht aber ist wahr, daß jeder recht hat und unrecht. Nehmen wir Wolf Mittler, den vorzustellen ich mir letzten Montag gestattete, und zwar im Zusammenhang mit einem Fernsehfilm über Charlie And His Orchestra. Der ganze Absatz, in dem auf jene Sendung verwiesen wird, fehlte; doch schrieb ich ihn, das ist wahr. Das tobende, tanzende Volk zur Fud Candrix JamSession aber, das kann es so nicht gegeben haben. Zum einen herrschte seinerzeit, während des Krieges, zwar kein Musizier- wohl aber Tanzverbot, zum anderen muß Mittler Orchester oder - was näher liegt Örtlichkeit verwechselt haben. Candrix wars jedenfalls nicht, der da im Delphi jammte. Nichtsdestotrotz: in des Berichtenden Erinnerung stimmt die Version. Wo nun rühren meine Zweifel her?

Nachts ging das Telefon, und ich wußte schon... Gar nicht wahr, nichts wußte ich, und außerdem wars Tag. In sogenannter Wirklichkeit hat er sich bei der taz nach mir erkundigt, woraufhin ich ihn zurückrief, wie man so sagt. Er, das ist Horst H. Lange, getrieben vom Wunsch, einige Fakten (siehe oben) zurechtzurücken. Manch Geschehen nämlich verformt sich im Lauf der Dezennien; des Fischers Beute wächst ins Anglerlateinische, und wo einst ein Keks gemümmelt ward, findet verklärten Rückblicks eine Tortenschlacht statt. So steckt in jeder Geschichtsbetrachtung, des bin ich gewiß, ein gerüttelt Maß Kolportage, geboren aus subjektiver Chronistensicht. So entstehen Legenden, die immerhin Unterhaltungswert besitzen. Und um Unterhaltung geht es hier, das sollte bei aller wissenschaftlicher Akribie nicht vergessen werden.

Damit nun keiner diese Serie künftig als Märchentand abtut, will ich rasch das Glatteis verlassen, den Gegenstand der letzten beiden Folgen etwas zu präzisieren.

Klar und wahr hat Horst H. Lange als der DeutschjazzExperte die Lutz Templin Band berücksichtigt im Rahmen seiner diskographischen Aufarbeitungstour de Force, die er bereits in den späten 40ern antrat. Schwarz auf Weiß, also wahr & wirklich belegt & nachzulesen im Pflichtbuch Jazz in Deutschland (Colloquium Verlag Berlin). Wert legt der sympathisch-fanatische Fleißarbeiter nur auf die Feststellung, daß, hotkritisch betrachtet, Templin unter eigenem Namen weit wertvollere Klänge einspielte denn als Leiter des propagandistischen CharlieOrchesters. Das ist gepreßt, das kann man hören, das ist wahr. Allerdings haben tatsächlich erst vor kurzem die Publizisten Steinbiß & Eisermann einige der Musiker mit wasweißich für Angeboten zum partiellen Auspacken bewegt: interessantes Exoticum in Sachen Zeitgespenst.

Und nun stelle man sich mal vor, daß für den guten Lange oben erwähntes Standardwerk „absolutes Nebenprodukt“ ist, wie er in der Zeitschrift Fox auf 78 schreibt, Nebenprodukt seiner Beschäftigung mit internationalem Jazz der PräVinylÄra, dann mag man den Gesamtumfang wahren Wissens & wirklichen Archivs erahnen. Er läßt daran teilhaben: Seit Jahrzehnten (hoffentlich stimmt das) präsentiert er die Resultate seiner Pionierarbeit im Rahmen der Mammutreihe Memories in Rhythm - Jazz & Hot Dance Music von Schellackplatten jeden zweiten Dienstag, 23.30 Uhr über SFB 1. Das Konzept ist ein alphabetisches; derzeit kommen all jene Tonkünstler & Interpreten zu Gehör, deren Name mit einem S beginnt. Und wer glaubt, nun hätte bald das letzte Funkstündlein geschlagen, dem sei gesagt, daß allein das Abhandeln dieses Buchstabens ca. zwei Jahre in Anspruch nehmen wird, laut des Produzenten Auskunft - der sich übrigens selbst schon schlitzohriger Manipulation schuldig machte, da er die „falschen“ Orchester mit den „richtigen“ Sounds übern Äther schickte. Erst am Schluß der Sendung klärte er den irritierten Insider auf.

Wie wahr also Wahrheit in Wahrheit sein kann, sieht der wahre Otto überall, zum Beispiel an der 'Wahrheit‘. Daß es aber sowas gibt, Vermittler wie Lange & Platten, die gemütlich knistern, das gehört zu meinen Lieblingswahrheiten.

Norbert Tefelski

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