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Gorbatschow beschwört die staatliche Einheit

■ In einem dramatischen Fernsehappell warnt er vor nationalistischen Exzessen und kündigt entschlossenes Vorgehen dagegen an / Warnungen auch vor Forderungen nach „Wirtschaftsautarkie“ und „kultureller Isolierung“ / Neue Unruhen aus Georgien gemeldet

Moskau (afp/taz) - In einem eindringlichen Appell hat der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow am Samstag die Einheit der Sowjetunion als Vielvölkerstaat beschworen. In einer 20minütigen Fernsehansprache äußerte er sich alarmiert über die wachsende Intoleranz in der UdSSR und warnte vor unabsehbaren Folgen, sollten sich die Konflikte weiter ausdehnen. Zugleich machte er deutlich, daß die gegenwärtige Krise ein Ergebnis jahrzehntelanger „Gesetzlosigkeit“ in der Nationalitätenpolitik ist. Gorbatschows Rede wurde zu Beginn der wichtigsten Nachrichtensendung Wremja ausgestrahlt. Am gleichen Tag hatte die Sowjetpresse über neue Straßenschlachten zwischen Georgiern und Aserbeidschanern berichtet. Inzwischen sind 3.000 Soldaten und Polizisten in das Krisengebiet verlegt worden.

„Das Schicksal der Perestroika hängt davon ab, daß in der Nationalitätenfrage die richtigen Entscheidungen getroffen werden“, erklärte Gorbatschow und kündigte ein entschlossenes Vorgehen gegen die Verantwortlichen der ethnischen Unruhen an. Auf dem Reformweg gebe es keinen Platz für „Grenzveränderungen“, für „ökonomische Autarkie“ und „geistige Abschottung“. Es gelte, ohne Zögern entschiedenste Maßnahmen gegen diejenigen zu ergreifen, die zur Veränderung der (inneren) Grenzen oder zur Vertreibung der Minderheiten aufrufen, erklärte er. Gorbatschow nannte ausdrücklich keine bestimmten Gebiete, sondern beschränkte sich auf vier Grundprinzipien zur „grundlegenden Erneuerung der Föderation“. Der erste Punkt ist der Anspruch jedes Sowjetbürgers, alle verfassungsmäßigen Rechte an allen Orten in der UdSSR genießen zu können. Die „Gleicheit der Nationen und Völker“ sei mit der „Gleichheit der Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität“, untrennbar verbunden. Dieser Punkt ist vor allem gegen die Verfolgung von Minderheiten in asiatischen oder kaukasischen Gebieten der UdSSR gerichtet. Als zweites Grundprinzip nannte der Kremlchef das Recht der sowjetischen Völker und Nationen, sich in ihren Gebieten bei freier wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklung sicher zu fühlen, jedoch ohne die Minderheiten, die in allen Republiken oder Regionen existierten, zu unterdrücken.

Drittens wandte sich der Präsident des Obersten Sowjets gegen unausgereifte Forderungen nach „Wirtschaftsautarkie“ und „kultureller Isolierung“, die jedem Individuum und jedem Volk nur Nachteile bringen würden. Dies ist sicherlich als Hinweis auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Staaten zu verstehen, die nach der Zwangsannektierung im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes mit am meisten unter der Russifizierungspolitik zu leiden hatten und deren Forderungen nach Wirtschaftsautonomie sich bis hin zur Einführung eigener Währungen erstreckt. Viertens unterstrich Gorbatschow die wichtige Rolle der kulturellen Eliten der sowjetischen Völker, deren Einfluß auf die ethnischen Konflikte „immens“ sei.

Gorbatschow kündigte an, das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, der Oberste Sowjet und der Volksdeputiertenkongreß würden sich energisch um eine Lösung der Nationalitätenkonflikte bemühen. Die nächste ZK -Vollversammlung im August sei diesen Problemen gewidmet. „Wir sind und bleiben ein Vielvölkerstaat“, betonte Gorbatschow.

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