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Normaler Dienstweg

■ Haft für 48jährigen, der auf dem Amt mit Schreckschußpistole 150 Mark Arbeitslosengeld verlangte

Es geschah am 12. Januar 1989 gegen 10.30 Uhr auf dem Arbeitsamt II in der Sonnenallee: Der etwas verwahrlost aussehende 48jährige Klaus-Dieter H. bittet seinen Sachbearbeiter, ihm 150 Mark Arbeitslosengeld auszuzahlen. Der Sachbearbeiter lehnt ab, nachdem ihm sein Computer verraten hat, daß H. wenige Tage zuvor bereits 500 Mark abgeholt hatte. Der völlig abgebrannte Klaus-Dieter H. läßt nicht locker, indem er darauf insistiert, Anspruch auf mehr Geld zu haben.

Der Sachbearbeiter fordert H. auf, in zwei Tagen wiederzukommen, weil H.s „Leistungsakte“ - in der die Ansprüche verbucht sind - gerade nicht zu finden sei. Klaus -Dieter H., der an einer besonders schweren Form der Diabetis leidet und sich in Ermangelung von Geld fürs Frühstück bereits im Zustand der „Unterzuckerung“ befindet, ist jetzt alles egal. „Ich habe noch andere Mittel“, erklärt er und gibt den Blick auf eine Pistole frei, die er unter seinem Pullover verborgen im Hosenbund stecken hat. Der Sachbearbeiter bleibt ganz ruhig, obwohl er die Schreckschußpistole für einen echten Revolver hält. Weil H. unbedingt zum Direktor will und der „normale Dienstweg“ gewahrt bleiben muß, infomiert er zunächst seinen unmittelbaren Vorgesetzten, der den Bericht über das Anliegen des bewaffneten Gastes an seine Chefin weitergibt. Nach Rücksprache mit dem Direktor weist die Chefin den Vorgesetzten des Sachbearbeiters an, H. einen Scheck über 50 Mark auszustellen, die er sofort in bar an der Kasse abholen kann.

H. zieht zufrieden von dannen. Nachdem er sich zwei Büchsen Cola und etwas zu essen gekauft hat, wird er eineinhalb Stunden später von der Polizei festgenommen.

Nach annähernd sechs Monaten in U-Haft stand H. gestern wegen schwerer räuberischer Erpressung vor Gericht. Das Urteil: Sechs Monate Haft wegen Nötigung, die durch die U -Haft abgegolten sind. Von der räuberischen Erpressung mußte nach der Vernehmung des Sachbearbeiters Abstand genommen werden: Jener hatte die Leistungsakte mitgebracht, aus der sich ergab, das H. seinerzeit Anspruch auf die sofortige Auszahlung von 1.212 Mark gehabt hätte.

Damit, so der Vorsitzende Richter Basdorf in der Urteilsbegründung, hätte der ganze Fall eigentlich als Bagatelle angesehen werden können, wäre H. nicht im November vergangenen Jahres nach 12 Jahren Haft - unter anderen wegen Bankraubs - aus dem Knast entlassen worden.

plu

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