: Oberste Richter hüten die Reagan-Revolution
191 lange Jahre blieb der Supreme Court, das mit der Interpretation der Verfassung beauftragte höchste Bundesgericht der USA, männliche Bastion. Als dann Präsident Reagan im Juli 1981 eine Richterin aus Arizona nominierte, wurde dies als positive Entscheidung bei Frauengruppen und liberalen Kongreßmitgliedern begrüßt. Und das, obwohl die Ernennung Sandra Day O'Connors taktische Reaktion auf Reagans schlechtes Abschneiden unter Frauen bei der Präsidentschaftswahl von 1980 war. Kritisiert wurde Reagan gerade von seiner vehementesten außerparlamentarischen Unterstützerin, der meist religiös motivierten Neuen Rechten. O'Connor, so die fundamentalistische Gesinnungspolizei, sei in den frühen siebziger Jahren als republikanische Abgeordnete im Staatsparlament von Arizona für die Abtreibungsfreiheit und den damals von der Frauenbewegung angestrebten Gleichberechtigungszusatz zur Verfassung eingetreten. Reagan wußte es besser, hatte ihm O'Connor doch in einem privaten Gespräch vor ihrer Nominierung versichert, Abtreibung sei „abscheulich“. Er konnte sich auf sie verlassen. O'Connor hat sich sich seitdem als verläßlicher Baustein einer konservativen Mehrheit im Supreme Court erwiesen.
Die seit den fünfziger Jahren das Oberste Gericht bestimmende liberale Mehrheit zu kippen war eines der wichtigsten politischen Ziele Reagans gewesen. O'Connors Ernennung war der erste Schritt dahin. Fünf Jahre später nutzte Reagan den Rücktritt Warren Burgers, des langjährigen Vorsitzenden des Supreme Court, um mit William Rehnquist einen ideologischen Gesinnungsgenossen an die Spitze des Gerichtshofs zu katapultieren. Für Rehnquist rückte der katholische Immigrantensohn Antonin Scalia nach. Das Duo Rehnquist-Scalia gebe dem Supreme Court „frische konservative Schlagkraft“, prophezeite damals das US -Wochenblatt 'Newsweek‘. Es lag richtig.
Sieg des Individuums
Die Ernennung des prominenten Bundesrichters Robert Bork sollte 1987 die Rechtswende krönen, doch der Senat legte sich quer. „Unser Jahrhundert ist geprägt von heftigen Kämpfen, um gleiche Rechte und gleichen Schutz für Schwarze, Minderheiten und Frauen in der Verfassung zu verankern“, so der demokratische Senator Joseph Biden, als der Kongreß über die Ernennung Borks debattierte. „In jedem dieser Kämpfe“, fuhr Biden fort, „hat das Individuum gesiegt und wurden seine Rechte ausgeweitet.“ Diese Traditionslinie war der republikanischen Rechten und konservativen Verfassungsrechtlern schon lange ein Dorn im Auge. Zwar wurde Bork wegen seiner ultrarechten Philosophie mit knapper Mehrheit vom Senat abgelehnt, doch Reagans Ersatzkandidat, der wesentlich weniger profilierte Anthony Kennedy, hat mit seinen Urteilssprüchen in der nun zu Ende gehenden Sitzungsperiode des Gerichtshofs demonstriert, daß Reagan sein Ziel erreicht hat.
Ein halbes Jahr nach seiner Amtsübergabe an Bush wird absehbar, daß die Reagan-Revolution nicht mehr im Weißen Haus, sondern vor allem von den schwarzberobten Richtern gehütet wird.
Deutlich wurde diese Trendwende gerade mit den jüngsten Urteilen zu Bürgerrechtsfragen. Seit 1954, als Präsident Eisenhower Earl Warren zum Vorsitzenden des Obersten Gerichts ernannte, hatte der sogenannte „Warren Court“ sich angeschickt, jahrhundertlang praktizierte Diskriminierung und ungleiche Behandlung von Minderheiten auszugleichen. Nach Rassen getrennte Schulen wurden abgeschafft und schwarze Kinder per Bus in entfernte weiße Schulen transportiert, um gleiche Bildungschancen zu garantieren. Weiter wurde angeordnet, öffentliche Transportmittel, Hotels und Restaurants allen Hautfarben zu öffnen. Zudem wurden Richtlinien entwickelt, um Minderheiten festgelegte Quoten an Arbeitsplätzen und Aufträgen zuzusichern, denn traditionelle Diskriminierung sollte nicht nur verboten sein, ihre Auswirkungen sollten durch aktive Maßnahmen beseitigt werden. „Affirmative Action“ nannte sich diese Praxis, von Konservativen als „umgekehrte Diskriminierung“ denunziert.
Aushöhlung von Bürgerrechten
Mit mehreren Urteilen hat der Gerichtshof in diesem Jahr das Prinzip von „Affirmative Action“ und die Rechte von Frauen und Minderheiten, gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz zu klagen, ausgehöhlt. So erklärte der Supreme Court Regelungen wie die der Stadt Richmond/Virginia für verfassungswidrig, durch die 30 Prozent der städtischen Aufträge an von Schwarzen geleitete Unternehmen vergeben wurden. Dann legten die Richter mit fünf zu vier Stimmen fest, daß nicht der Unternehmer, sondern die Angestellten die Beweislast zu tragen haben, falls die Einstellungspraxis einer Firma den Verdacht der Diskriminierung wecke.
Zwei weitere Urteile schürten die Befürchtungen noch weiter, daß die über zwei Jahrzehnte mühsam erstrittenen Regeln zum Schutz von Minderheiten am Arbeitsplatz Stück für Stück über Bord geworfen werden könnten. Übel gerupft wurden auch die Rechte aller, die in die Fänge der Polizei geraten, denn die Richter lockerten die Pflicht derBeamten zur Rechtsmittelbelehrung eines Festgenommenen. Erschreckend auch ihr Urteil über die Beibehaltung der Todesstrafe für Mörder, die zum Tatzeitpunkt erst 16 Jahre alt sind, und für geistig Behinderte.
Die Warnungen vieler Bürgerrechtsorganisationen und die schwache öffentliche Reaktion auf diesen Richterspruch gingen jedoch völlig in dem Sturm unter, den das „Flaggen -Urteil“ unter den Berufspatrioten im Kongreß entfachte.
Aufregung bei
„Stars'n Stripes“
Zwei der drei von Reagan ernannten Richter hatten sich der Mehrheitsmeinung angeschlossen, daß die Freiheit der politischen Meinungsäußerung eine symbolische Protestaktion wie das Verbrennen der US-Flagge einschließt. „Die Regierung darf keine Meinungsäußerung nur verbieten, weil die Gesellschaft diese Meinung als abstoßend empfindet“, so der liberale Supreme-Court-Richter William Brennan in der Urteilsbegründung. Sein konservativer Gegenspieler Rehnquist verglich das Verbrennen der Flagge hingegen mit „Mord, Veruntreuung oder Umweltverschmutzung“.
Präsident Bush sah eine willkommene Gelegenheit, ein Thema aus dem Wahlkampf des letzten Jahres aufzugreifen, und brachte einen Verfassungszusatz im Kongreß ein, der „das Entweihen der Flagge“ verbieten soll. Das nahezu völlige Fehlen einer kritischen Öffentlichkeit, die die Borniertheit des politischen Diskurses offenlegen würde, macht sich hier schmerzlich bemerkbar. Andernfalls hätte sicher mehr als eine Handvoll Abgeordnete den Mut gefunden, gegen den hohlen Flaggenpatriotismus Bushs zu stimmen.
Stefan Schaaf, Washington
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