: Katastrophaler Polizeieinsatz
■ Kritik am Polizeieinsatz nach Tod des 13jährigen türkischen Jungen in Essen / Staatsanwaltschaft sieht kein Fehlverhalten / Beamte weiter im Dienst
Essen (taz) - Nicht die panikartige Flucht des 13jährigen Kemal C., sondern der Polizeieinsatz am vergangenen Freitag in Essen-Frohnhausen hat zu der Eskalation geführt, die den Jungen das Leben kostete. Seit gestern deutet alles darauf hin, daß es mehrmals während des Einsatzes möglich gewesen wäre, die Situation zu entspannen. Demgegenüber hält die Staatsanwaltschaft die Anzeige der Angehörigen des Jungen für unbegründet. Staatsanwalt Dr. Bernd Schmalhausen blieb auch gestern bei seiner bereits zu Beginn der Ermittlungen aufgestellten Behauptung, daß „die Beamten in der Verfolgung richtig gehandelt haben“. Deshalb ist er sich auch sicher, daß die Strafanzeige von Kemals Familie, zu keinen Ermittlungen gegen die Beamten führen wird. Die Polizisten sind weiter im Dienst.
Bereits am Unfallort hatten zwei Streifenbeamte die Personalien des 16jährigen Beifahrers von Kemal C. festgestellt, mit dem dieser auf einem unangemeldeten Moped einen BMW angefahren hatte. Weil aber Kemal C. mit dem Moped flüchtete, informierten die Beamten einen zweiten Streifenwagen über die Unfallflucht des 13jährigen. Dieser stoppte den Jungen, und weil er zu Fuß weiterflüchten wollte, „kam es“, so der ermittelnde Staatsanwalt Schmalhausen, „zu einer Rangelei, während der Kemal und der Beamte zu Boden gingen“. Wie es Kemal dabei gelingen konnte, an die Waffe des Polizisten zu kommen, ist bisher nicht geklärt, ebensowenig, was der zweite Beamte währenddessen tat. Die beteiligten Beamten wurden noch nicht von der Staatsanwaltschaft vernommen.
„Streifenbeamte müssen damit rechnen, daß ein Jugendlicher nicht rational reagiert“, kritisiert Manfred Such von der Arbeitsgemeinschaft Kritischer Polizisten. Vielleicht sei der Junge nach der verbotenen Mopedfahrt und dem Unfall einfach durchgedreht. Im übrigen habe man ja einen der Unfallverursacher feststellen können und damit auch andere Mittel gehabt, um den flüchtigen Kemal zu ermitteln. Nicht nur die Tatsache, daß der Junge an die Waffe kommen konnte, sondern der ganze Einsatz mache deutlich, „daß die Polizeibeamten nicht ihrem Ausbildungsstand entsprechend gehandelt haben“.
Bei der anschließenden Verfolgungsjagd, während der Kemal C. viermal schoß und mehrere der insgesamt etwa 50 Beamten zurückschossen, ist der 13jährige immer mehr in die Enge getrieben worden. Kemals Flucht endete in einer Kleingartenreihe, aus der es für ihn kein Entkommen mehr gegeben hätte. Südlich der sechs Gärten befinden sich die Bahnanlagen, an den Fortsetzung auf Seite 2
drei anderen Seiten sind sie von Straßen eingeschlossen. Die Polizei hatte das winzige Gelände umstellt. 20 Meter hinter den Beamten standen die ZuschauerInnen. Sie ließen sich auch nach mehrmaligen Auf
forderungen nicht zurückdrängen und ihr Schutz wird nun von der Polizei als ein wesentlicher Grund dafür angeführt, daß auf Kemal geschossen wurde.
Der Kleingärtner, in dessen Garten Kemal auf das Dach einer Laube gestiegen war, beobachtete den Einsatz vom Fenster seiner Wohnung und brachte den Polizisten den Schlüssel zu seiner Laube. Er sagte den Polizisten, daß der Junge allein nicht aus der Laubenecke herauskommen könnte. Kurz danach fielen die tödlichen Schüsse.
Die Humanistische Union wandte sich gestern in einem offenen Brief an den nordrheinwestfälischen Innenminister Schnoor und forderte eine „unvoreingenommene dienstliche und disziplinarrechtliche Untersuchung“ des Falles. „Es drängt sich der Eindruck auf“, daß die Polizeibeamten während des gesamten Ablaufs nicht die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel beachtet haben, heißt es in dem Brief. Die Humanistische Union fragt vor allem, wie der Junge an an die Waffe kommen konnte und wie die Beamten den 13jährigen auf ein Alter zwischen 17 und 20 schätzen konnten. Außerdem will sie wissen, ob die Beamten nicht spätestens, als Kemal auf das Dach der Gartenlaube geflohen war, Maßnahmen zur Deeskalation der Situation hätten treffen können, da das Gelände ja umstellt war.
Die Essener Grünen haben zusammen mit AusländerInnenorganisationen eine Mahnwache für die nächsten Tage angekündigt. Sie wollen den Fall außerdem in einer Sondersitzung des Kreispolizeibeirates klären lassen. Bereits am Sonntag hat der Essener Oberbürgermeister Reuschenbach gemeinsam mit dem stellvertretenden Polizeipräsidenten Erhorn und dem Vorsitzenden des Ausländerbeirats Aktas Kemals Familie besucht und ihr sein Mitgefühl ausgesprochen.
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