: West-Berlin als Leningrader Notausgang
■ Warum zwei junge Chinesen, die in der Sowjetunion Slawistik studierten, in dieser Stadt auf Wohnungssuche gehen
Das erste, was Jia Jia vor zehn Tagen in West-Berlin zu Gesicht bekam, war der Flohmarkt am Tiergarten, wo professionelle Händler Gebrauchsgegenstände der zwanziger und dreißiger Jahre zu völlig überhöhten Preisen verhökern. Als die 23jährige Chinesin mit ihrem Freund Hong Qiu am Vormittag den S-Bahnhof verließ und auf die Straße des 17.Juni trat, wußten beide noch nicht, wo sie übernachten sollten. Sie kannten niemanden in Berlin, sprachen kein Wort Deutsch und hatten außer ein paar Koffern nichts bei sich. Deshalb steuerten sie einfach ein koreanisches Restaurant an, in dem ein chinesischer Koch arbeitete. Ob er chinesische Studenten kenne, fragten die beiden. Der Koch kannte keine. Aber der Ober im Chinarestaurant ein paar Straßen weiter, der kannte welche. Damit war die drei Tage dauernde Flucht aus Leningrad über Moskau, Warschau und Ost -Berlin von Jia Jia und Hong Qiu fürs erste beendet.
Jia Jia und Hong Qiu hatten in Leningrad jahrelang russische Vokabeln gebüffelt, um eines Tages in die große Volksrepublik zurückzukehren und dort Slawistik zu lehren. Am 20. Mai kam ihnen etwas dazwischen. Das Pekinger Regime hatte den Ausnahmezustand ausgerufen. Weil die sowjetischen Medien nur spärlich über die Unruhen berichteten, setzten sich beide nächtelang vor ihr Kofferradio, um über Kurzwelle BBC oder „Voice of America“ zu hören. Die Nachrichten wurden mitgeschnitten und tagsüber den rund 100 in Leningrad lebenden Studentinnen und Studenten vorgespielt. Am 21. Mai demonstrierten etwa 20 von ihnen vor dem chinesischen Konsulat. An diesem Tag wurden sie noch vom Konsul empfangen, der sogar ein Protestschreiben der Studiosi entgegennahm. Am Tag darauf, als etwa doppelt so viele chinesische Studenten demonstrierten, blieben die Pforten geschlossen.
Am 4. Juni, dem Tag nach dem Massaker, warf Jia Jia einem Funktionär der Kommunistischen Jugend Chinas ihr Mitgliedsbuch vor die Füße. Als ein paar Tage später die ersten Todesurteile gefällt wurden, stand ihr Entschluß fest: In dieses China wollte sie nicht zurück. Wegen ihrer Beteiligung an den Demonstrationen mußte sie nun mit Repressionen rechnen. Und in China hätte man sie wohl auch gezwungen, ein Papier zu unterschreiben, das den Einsatz der Armee rechtfertigt. Wer die Unterschrift verweigert, der kann sich Auslandsreisen abschminken. Für eine Studentin der Slawistik keine angenehme Aussicht.
Hong Qius Problem war noch größer. Während Jia Jia zumindest noch für die Dauer ihres Studiums in Leningrad hätte bleiben dürfen, hatten die sowjetischen Behörden sein Visum nicht verlängert, was praktisch einer Auslieferung gleichgekommen wäre. Und je mehr Todesurteile in Peking gefällt wurden, desto klarer wurde den beiden, daß es einfach „zu gefährlich ist, jetzt zurückzukehren“, wie es Jia Jia formuliert. West-Berlin war ihr Notausgang.
Nun sitzen die beiden Chinesen aus Leningrad im Cafe Adler am Checkpoint Charlie und erzählen, zehn Meter von der Mauer entfernt, ihre Geschichte. Jia Jia hat bereits einen Job als Babysitterin, Hong Qiu kellnert in einem Chinarestaurant. Chinesische Studenten in Berlin haben die beiden vorübergehend aufgenommen. Man wird sich schon einleben, meint Jia Jia, die Leute seien alle ganz freundlich. Bis auf die Beamtin bei der Ausländerpolizei, die, als der Aufenthaltsantrag zu stellen war, losgeiferte, daß „Deutschland kein Einwanderungsland ist“. Ein Freund, der Jia Jia und Hong Qiu begleitete, beschwerte sich über die Frau. Ergebnis: Ihr Vorgesetzter entschuldigte sich für den Spruch, der so auch auf Flugblättern der REPs zu lesen ist. Die Beamtin mit Pensionberechtigung entschuldigte sich nicht.
Da es in Berlin bekanntermaßen ein gewisses Wohnungsproblem gibt, hoffen die beiden nun auf taz-LeserInnen, die noch Platz in ihrer Wohngemeinschaft haben. Am liebsten wären ihnen Slawistikstudenten als Zimmernachbarn - Russisch können sie ja mittlerweile.
Claus Christian Malzahn
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