: Öffentlichkeit für das Intime
■ Vor 70 Jahren wurde das „Institut für Sexualwissenschaft“ gegründet
Bernhard Benedixen
Sechster Juli 1919. In Berlin wird von Magnus Hirschfeld (1868-1935) und vier weiteren Medizinern das „Institut für Sexualwissenschaft“ gegründet. Es ist das erste seiner Art in der ganzen Welt und bedeutet einen entscheidenden Meilenstein auf dem Wege der in Deutschland noch jungen Sexualforschung. Nur knapp 14 Jahre lang können Hirschfeld und seine Kollegen in dem Institut „In den Zelten Nr.10“ international beachtete und anerkannte Arbeiten betreiben. Am 6.Mai 1933 brechen nationalsozialistische Fanatiker des „Komitees gegen ungermanischen Geist“ in das Institut ein und stehlen rund 12.000 Bücher, die sie bei der Bücherverbrennung am 10.Mai 1933 zusammen mit einer Büste Hirschfelds und Werken anderer verfemter SchriftstellerInnen am Berliner Opernplatz vernichten. Das Institutsgebäude, das heute nicht mehr existiert, wird in der Folgezeit zum Sitz mehrerer nationalsozialistischer Organisationen und Vereinigungen. Sexualwissenschaft
im deutschen Kaiserreich
Als Vater der Sexualwissenschaft, der Sexologie, gilt der Berliner Arzt Iwan Bloch (1872-1922), der 1907 in seinem umfangreichen Werk Das Sexualleben unserer Zeit den Begriff „Sexualwissenschaft“ prägte. Bloch ging es darum, die Bedeutung des Sexuellen für das individuelle und soziale Leben und für die kulturelle Entwicklung des Menschen zu erhellen und ins Bewußtsein zu rufen. Die Sexualwissenschaft als Humanwissenschaft war für ihn gleichrangig mit allen anderen Disziplinen, die sich mit dem Menschen beschäftigen, wie z.B. die Biologie, Anthropologie, Völkerkunde, Philosophie u.a. Damit war zum einen die Legitimation und Bedeutsamkeit der Sexualwissenschaft als Teildisziplin in der „Wissenschaft vom Menschen überhaupt“ formuliert; zum anderen lieferte Iwan Bloch mit seiner Bestimmung der Sexualwissenschaft so etwas wie eine Theorie dieser Wissenschaft: Als eine Humanwissenschaft neben anderen sollte sie sich nicht nur auf den Bereich des Biologischen und des Medizinischen beziehen, sondern nach der Vorstellung Blochs sollte sie sich zu allen benachbarten Disziplinen hin öffnen und deren Ergebnisse für die eigene Arbeit fruchtbar machen.
Bereits ein Jahr später, 1908, gab Magnus Hirschfeld gemeinsam mit Hermann Rohleder und Friedrich S. Krauss die erste sexologische Zeitschrift heraus, die Zeitschrift für Sexualwissenschaft. Hirschfeld, seit 1896 Arzt in Berlin/Charlottenburg, hatte bereits 1897 das „Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee“ ins Leben gerufen, das sich einsetzte für die Aufhebung der rechtlichen und sozialen Diskriminierung von Homosexuellen. Publikationsorgan dieses Komitees war von 1899 bis 1925 das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. Um eine Aufhebung des §175 zu erreichen, der Homosexualität unter Strafe stellte, wurde im Dezember 1897 eine erste Petition an Reichstag und Bundesrat geleitet. (Die §§175, 175a StGB wurden in der Bundesrepublik Deutschland am 10.5.1969 aufgehoben.)
Nachhaltigen Einfluß auf die frühe Sexualwissenschaft hatte auch die Feministin Dr.Helene Stöcker (1869-1943). Gemeinsam mit anderen gründete sie 1905 den „Bund für Mutterschutz“. Als dessen Präsidentin und als erste Herausgeberin der Zeitschrift Mutterschutz - Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik kämpfte Helene Stöcker für die Rechte lediger Mütter und nichtehelicher Kinder, für eine neue Sexualmoral und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. „Institut für Sexualwissenschaft“
Die Sexualforschung war also keine „Erfindung“ der jungen Weimarer Republik; mit dem „Institut für Sexualwissenschaft“ wurde sie allenfalls institutionalisiert und intensiviert. Die 115 Räume der von Hirschfeld erworbenen ehemaligen Botschafterresidenz nahe des Tiergartens boten Platz für Wirtschaftsräume, Angestelltenwohnungen, Büros, Laboratorien, Operations- und Untersuchungsräume. Gesondert untergebracht waren ein gerichtsmedizinischer Dienst für gutachterliche Stellungnahmen, ebenso die Institutspension. In ihr nahmen Auslandsgäste, Wissenschaftler und Studenten Quartier. Besonders sehenswert waren die Institutsbibliothek mit 100.000 Bänden, Archivalien und biographischen Dokumenten sowie das Institutsmuseum.
Die zum Institut gehörige Sexualberatungsstelle - die erste Einrichtung dieser Art in der Weimarer Republik - bot Hilfen an bei sexuellen Störungen, Geschlechtskrankheiten, bei Fragen der Schwangerschaftsverhütung sowie der ungewollten Schwangerschaft.
Das „Institut für Sexualwissenschaft“ diente somit als Lehr - und Forschungsstätte, als Heilungs- und Zufluchtsort. 1921 wurde es mit dem Zukauf eines Hauses erweitert; am 2.Februar 1924 als „Dr.Magnus Hirschfeld-Stiftung“ vom preußischen Staat übernommen. Direktor wurde Magnus Hirschfeld. Erbitterte Ablehnung
der Sexualreformer
Wohl mitbegünstigt durch das „Institut für Sexualwissenschaft“ entstand in den zwanziger Jahren eine regelrechte Sexualreformbewegung. 1932, 13 Jahre nach Gründung der ersten Sexualberatungsstelle in Hirschfelds Institut, wurden in Deutschland bereits 400 Sexualberatungsstellen gezählt, davon fast 40 in der Metropole Berlin. Weitere Zentren waren in Hamburg, Bremen, dem Ruhrgebiet, Dresden und Frankfurt.
Es gab eine Anzahl sogenannter „sexueller Aufklärungsfilme“, in denen Probleme von Syphilis bis zu Prostitution und Sexualität im Gefängnis behandelt wurden. Hierbei war Hirschfeld nicht nur oftmals beratend tätig; er spielte sogar selber mit - so in dem 1919 gedrehten Film Anders als die anderen. Darin geht es um einen homosexuellen Geiger, der erpreßt wird und Selbstmord begeht.
Aufgrund der vielfachen Aktivitäten Hirschfelds, der zudem noch ein vielbeschäftigter Vortragsredner war, war es nicht verwunderlich, daß er sehr bekannt - und damit zur Zielscheibe von Kritik, Polemik, Haß und sogar Anschlägen von Gegnern der Sexualreformer, wurde. 1920 wurde Magnus Hirschfeld nach einem Vortrag in München überfallen und so schwer verletzt, daß einige Zeitungen fälschlicherweise schon seinen Tod meldeten. Als sich diese Meldungen als falsch erwiesen, schrieb eine Dresdener Zeitung: „Unkraut vergeht nicht. Der wohlbekannte Dr.Magnus Hirschfeld war hinreichend verletzt worden, um auf die Todesliste gesetzt zu werden. Wir hören nun, daß er sich tatsächlich von seinen Wunden erholt. Wir zögern nicht zu sagen, daß wir bedauern, daß dieser schamlose und schreckliche Vergifter unseres Volkes nicht sein wohlverdientes Ende gefunden hat.“
Insbesondere die nationalsozialistische Presse setzte ihre Angriffe während der zwanziger Jahre fort, und im Laufe der Zeit wurden immer mehr Vorlesungen Hirschfelds durch Störtrupps der Nazis unterbrochen. Er konnte daher öffentlich nicht mehr auftreten. Im November 1930 verließ Hirschfeld Deutschland zu einer Weltreise, während der er zahlreiche Zeitungsinterviews gab und Vorträge hielt. Nach Deutschland kehrte er nicht zurück, sondern zog sich nach dem erfolglosen Versuch, in Paris ein neues sexualwissenschaftliches Institut zu gründen, nach Nizza zurück, wo er an seinem Geburtstag, dem 14.Mai 1935, verstarb. Zerstörung der
Beratungsstellen 1933
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten werden die Sexualberatungsstellen geschlossen; Leiter und Mitarbeiter werden verhaftet oder in Zuchthäuser und KZs verschleppt. Kristine von Soden, eine Kennerin der Sexualreformbewegung während der Weimarer Zeit, mahnt: „Die Zerstörung der Sexualberatungsstellen und die Vernichtung wertvoller Beratungsdokumente, sexualwissenschaftlicher Bücher und Aufklärungsfilme löschte nicht allein einen Teil deutscher Kultur- und Wissenschaftsgeschichte aus, sondern auch die Erinnerung an ihn. Übrig bleiben nur wenige 'große‘ Namen wie z.B. Magnus Hirschfeld, während die vielen Ärztinnen und Ärzte, Sozialarbeiter und Schreibkräfte der Sexualberatungsstellen weithin unbekannt sind. Die meisten leben nicht mehr. Denen, die uns noch berichten können, sollten wir Gehör schenken.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen