: BRÜCKENSCHLAG
■ Ein Lesebuch zu deutsch-griechischen Beziehungen
Entfernungen in die Wirklichkeit“. Der prosaische Titel des Buches könnte aus der Feder des griechischen Dichters Jannis Ritsos stammen. Der Herausgeber, Armin Kerker, letzthin in der taz falscher griechischer Übersetzungen bezichtigt, hat von siebzehn Autoren das Spannungsfeld Griechenland Deutschland beschreiben lassen. Herausgekommen ist ein Buch, das sicher auch für Griechenlandprofis Unbekanntes bietet: Zum Beispiel die Geschichte der Hochsprache Katharevoussa, die in vielen Griechisch-Sprachkursen quasi wertfrei als Amtssprache dargestellt wird. Dabei wurde sie benutzt, wie Heinz Richter beschreibt, um Herrschaft durch Sprache zu zementieren. Kathrevoussa wurde in den Schulen unterrichtet, 65 Prozent der Bevölkerung der Jahrhundertwende blieben Analphabeten. Zwei Prozent absolvierten die Oberschule. Nur sie konnten Zeitungen und Literatur lesen, Gerichtsverhandlungen folgen usw. Die Hochsprache teilte das Volk in Herrscher und Beherrschte. Die Dimotiki sprechenden Teile der Bevölkerung formierten sich zum Widerstand, unterlagen und wurden als Kommunisten verfolgt. Erst 1976 wurde der Sprachenstreit beigelegt. Mit dem Sieg der Volkssprache Dimotiki begann die Demokratisierung der griechischen Gesellschaft. Das Spannungsfeld Deutschland -Griechenland wird in dem Band auch während der Zeit des Faschismus aufgegriffen. Von dem bewunderten Vorbild Deutschland bleibt nach dem Einmarsch der nazionalsozialistischen Wehrmacht nichts bestehen. Allein in Athen starben 270.000 Menschen den Hungerstod. Ungezählt sind jene, die umgebracht wurden. Daß die Terrorherrschaft nicht vergessen ist, zeigen unter anderen die Berichte von Panos Tzavellas und Hagen Fleischer.
Eng verknüpft mit diesen politischen Ereignissen ist auch die geschichte der griechischen Frauenbewegung. 1943 waren die Mitglieder der Nationalen Befreiungsfront zu 40 Prozent Frauen, die bewaffnet gegen die Nazis kämpften. In den befreiten Gebieten konnten sie ihre gesellschaftliche Gleichstellung durchsetzen. In der griechischen Verfassung gelang ihnen das erst 30 Jahre später. Wie es heute um die Frauenbewegung bestellt ist, berichtet Annita Kalpaka.
Ein ausgesprochen hilfreicher Artikel widmet sich dem türkischen Kaffee im griechischen Cafenion. Er zeigt, daß die Kunst des Kaffeetrinkens sich nicht in der Angabe der Zuckermenge erschöpft. 47 Möglichkeiten werden von Emmanuel Sachos aufgezählt. Allein für den Kaffee ohne Zucker werden acht Möglichkeiten der Zubereitung genannt. Von „ohne gekocht, ohne halb gekocht, ohne stark gekocht“ zu „ohne ziemlich leicht halb“ usw. Alles was ich bisher getrunken habe, war demnach „nerobourbuli“ Blubberwasser, in fünf Minuten gekocht, statt der vorgeschriebenen 20 Minuten. Wer Kaffeehauskultur noch erleben will, muß sich beeilen. Nescafe ist auch dort auf dem Vormarsch.
Gabi Trinkaus
Armin Kerker (Hg.): „Griechenland - Entfernungen in die Wirklichkeit. Ein Lesebuch“, Argument-Verlag, Berlin 1988, 249 Seiten, 28 DM
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