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Die Berliner: „Babylonisches Volksgewirr“

■ Neuauflage eines Buches über die Berliner vom Anfang dieses Jahrhunderts, in der dieselben nicht besonders gut wegkommen

Von einem „Bastardgeschlecht“, das „jeder Analyse spottet“, einem „wahrhaft babylonischen Volksgewirr“ und „ungeheuren Mischmasch“ von verschiedenen Völkern an Havel und Spree spricht eine bissige und provokative Berlin-Geschichte von Karl Scheffler, die bei ihrem Erscheinen 1910 einen Sturm der Entrüstung auslöste. „Die Berliner waren entsetzt, und manche Buchhändler weigerten sich damals, das Buch zu verkaufen“, heißt es in einem Nachwort einer jetzt erschienenen neuen Reprint-Ausgabe von „Berlin - ein Stadtschicksal“ (Verlag Fannei und Walz).

Scheffler bezeichnete Berlin damals als „Sammelpunkt slawischer Elemente“. Um 1905 habe es etwa 32.000 Berliner gegeben, die nur Slawisch sprachen. Die „polnisch-wendische Bevölkerung Preußens“ habe in der jungen Reichshauptstadt neue wirtschaftliche Möglichkeiten gewittert. Die Berliner hätten den Osten „auch instinktiv als ihr wichtigstes Absatzgebiet“ betrachtet. „Sie schlossen sich nicht ab, sondern knüpften Beziehungen bis tief ins Polnische hinein.“ Um die Jahrhundertwende bestand laut Scheffler die Bevölkerung zu 35 Prozent aus germanischer, zu 36 Prozent aus romanischer und zu 24 Prozent slawischer Abstammung. Es seien vor allem Bevölkerungsteile des Ostens, mit deren Hilfe Berlin seine Einwohnerzahl rapide vermehrt habe. Walther Kiaulehn, der auch das Standardwerk „Berlin Schicksal einer Weltstadt“ verfaßte, meinte 1958 über Schefflers Berlin-Geschichte: „Weder aus Liebe noch aus Abneigung ist in den letzten 50 Jahren ein ähnliches Buch geschrieben worden, eines, das stärker, genauer und beweiskräftiger gewesen wäre.“ Die Gründe dafür lagen in Schefflers respektloser Beschreibung des Berliners, den er als „unangenehmen Menschenschlag“ unter die Lupe nahm, und dessen „seelenlose Goldgräberstadt“ man nicht lieben könne die allerdings auch nicht geliebt werden wolle.

Der Berliner als „Sohn eines bunten Auswanderergeschlechts“, das „nicht der Blüte des Volkes anzugehören“ pflege, sei „yankeehaft unternehmend“ und „energisch, willensstark, beutehungrig und freiheitsdurstig“, ein „Skeptiker und Ironiker“, der „geborene Kritiker aller Werte, die er selbst hervorzubringen nicht imstande ist“. Seine „weltkluge Heuchelei“ könne er nur halb hinter „schnoddriger Aufrichtigkeit“ verbergen. Der Berliner „betet den Amerikanismus an, weil er sich selbst darin wiederfindet und gibt sich der Gottheit der Quantität uneingeschränkt hin“. Dieser Bevölkerung verdanke Berlin „letzten Endes seinen ungeheuren materiellen Aufschwung wie auch die entsetzliche Verhäßlichung der Stadt“. Den Berliner kennzeichneten „eine Nervosität und Unlust, die zum festtäglichen Glanze der Weltstadt nicht stimmen will“, was ihm den Rest von Liebenswürdigkeit nehme. „Einer überschreit immer den anderen. Jeder hält für gut und richtig nur, was er sagt. Unter hundert Berlinern gibt es nicht zwei, die zuzuhören verstehen.“ In Berlin gebe es einen „Großstadtjargon ohnegleichen“. Sogar zwischen Eltern und Kindern herrsche in der Regel „ein kühler, ironisch witzelnder Ton oder die Sprache brutaler Nützlichkeit“. In den Eßgewohnheiten herrsche „fast Anarchie“. Berlin sei „die eigentliche Stadt der Konserven, des Büchsengemüses und der Universaltunke“. Für die Hauptmahlzeiten gebe es keine festen Stunden, und ins Theater gehe man, „wie man gerade aus dem Geschäft kommt“.

In einem Resümee kommt Scheffler dann aber zu einer Art „skeptischer Utopie“ und bezeichnet Berlin als „Experimentierfeld“, wo „moderne Gesinnungen immer irgendwie Resonanz“ fänden, eher als anderswo. Neue Strömungen in der Kultur, Wirtschaft oder Politik seien in ihrer Bedeutung in Deutschland immer zuerst in Berlin erkannt worden. „Die geistigen Bewegungen, die in den achtziger und neunziger Jahren durch die deutsche Jugend gingen, konnten nur in Berlin ihren Mittelpunkt finden“, schrieb Scheffler 1910 und fügte hinzu, die Stadt könne aus ihrer „besonderen Determination“ Vorteile ziehen, wie keine andere Stadt der Alten oder Neuen Welt.

dpa

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