: Abgesang für einen Verlierer
Ivan Lendls größtes Ziel bleibt unerreicht / Boris B. bummte ihn vom Centre Court ■ Aus Wimbledon B. Müllender
Ivan Lendls Beruf ist der eines Tennisspielers. Sein Problem ist es, der beste seiner Gilde zu sein, aber nie das größte Ziel erreicht zu haben: den Sieg in der oft heilig genannten Tenniskathedrale von Wimbledon. Das ist so, als ob einem Niki Lauda immer kurz vor der Ziellinie das Benzin ausgegangen wäre, als ob ein Zehnkämpfer bei Olympia dreimal in der ersten Disziplin fehlstartet oder als ob ein Reinhold Messner seine handsignierten Yetiporträtfotos oben auf dem Himalaya hätte liegen lassen.
Ob in Paris, Amsterdam, New York oder in Herne 3 wird heute zu lesen sein, daß der arme Mann am Samstag ebenso dramatisch wie un-glücklich gegen einen Boris Becker aus der Bundesrepublik ein über vierstündiges Halbfinaltennismatch verloren hat, das in nackten Zahlen 5:7, 7:6, 6:2, 4:6 und 3:6 gegen ihn ausging; daß es genausogut umgekehrt hätte sein können; daß Tennis nun mal ein Sport ist, der gemeinerweise ein Unentschieden nicht duldet; daß dem Gegner Becker, wie schon bei dessen sensationellem Sieg in Wimbledon 1985, als er noch fast ein Kind war, wieder einmal in kritischer Situation eine Regenpause half und vielleicht auch, daß der Deutsche jetzt den Titel eines „Rain Man“ tragen sollte; daß der 29jährige Tscheche das beste Match seiner Karriere auf Rasen zeigte und daß es deswegen besonders tragisch, deprimierend, schicksalsschwer oder auch ungerecht war; daß er es wieder nicht geschafft hat, was ihm alle von Herzen gegönnt hätten: diesen besonderen Sieg.
Es werden noch einmal seine vielen Siege aufgelistet sein, daß sich der Herr Lendl so intensiv wie nie auf gerade dieses Turnier vorbereitet hat, andere fettdotierte Meetings abgesagt hatte, sich statt dessen einen privaten Rasenplatz zum Trainieren hat anlegen lassen, um aber auch gar nichts unversucht zu lassen, und daß er kurz zuvor endlich einmal einen Sieg in einem anderen Rasenturnier geschafft hatte, was als besonders gutes Omen gewertet wurde. Daß er nach fünf Siegspielen zuvor nicht mehr sagte „Gras ist nur was für Kühe“, sondern jetzt ehrfurchtsvoll: „Ich glaube, das Gras mag mich mehr als früher.“ Daß diese Art von Liebesbeziehung dann aber doch nicht gereicht hat.
Sie werden seine Frustration hinterher episch ausgeschmückt haben. Oder ihn nur zitieren: daß er „enttäuscht“ war, dann „sehr enttäuscht“ und schließlich „extrem enttäuscht“. Daß er mit dem Schicksal haderte, alles „ein bißchen absurd“ fand, aber auch daß er sich selbst als greedy nach diesem einen Sieg bezeichnete, was je nach Wohlwollen mit gierig, unbescheiden oder lechzend über-setzt werden wird; daß er es dennoch wieder versuchen will, weil man den süßen Erfolg erst dann richtig auskosten könne, wenn er nicht zu leicht gefallen sei. Dies wird ihm sicher als träumerisches Wunschdenken ausgelegt, denn im nächsten Jahr hat der begeisterte Hobbygolfer Lendl vielleicht sein Handicap 24 verbessert, aber in Jahren zählt sein Handicap dann schon 30.
Vielleicht werden bei aller Tragik einige auch nicht vergessen, daß sich Ivan Lendl Entscheidendes auch selbst vorwerfen muß - dreimal, jeweils in entscheidenden Situationen, schenkte er seinem Gegner ein Break mit einem Doppelfehler, ein Lapsus, der dem netten Sportsmann Lendl, dessen PR-Fehler es ist, auf dem Platz immer so verbissen und eben greedy zu wirken, auch auf seinen bevorzugten Asche- oder Hartplätzen nie hätte passieren dürfen -; daß selbst sein Opponent Becker nachher sagte, insbesondere im vierten Satz, als er 1:2 und 2:3 nach Break von Lendl zurücklag, sei er recht sicher gewesen, daß ein Viertelstündchen später alles für ihn vorbei sein würde; daß Lendl ihm, Becker, aber „nicht leid tutt“, wo der doch schon so viele andere Turniere gewonnen habe.
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