: Heilige Kühe schlachten?
■ Die Auseinandersetzung um Aussiedler gerät in der AL zum Streit zwischen „Bereichslobbies“ / Polnischer Sozialrat kritisiert AL-Positionen
„Schwemmen Aussiedler die AL-Positionen davon?“ lautete die provokative Frage der Diskussionsveranstaltung am Montag abend. Die Antwort kam deutlicher als erwartet. Rot-grüne Politik könne man sich gleich ganz sparen, erklärte der AL -Abgeordnete Bernd Köppl, wenn nicht umgehend Maßnahmen zur Senkung der Zuwandererzahlen ergriffen würden. Und weil er sich rot-grüne Politik nicht sparen will, fordert Köppl juristische und administrative Konsequenzen aus der Zuwanderung von Aus- und Übersiedlern, „ob uns das jetzt moralisch paßt oder nicht“.
Eine so reibungslose Anpassung an die Sachzwänge rot-grüner Regierungspolitik konnten einige der Anwesenden nicht nachvollziehen. Scharfe Kritik erntete diese Position von Witof Kaminski, Mitglied des polnischen Sozialrats in Berlin. „Wie kann man das, was bisher CDU und FDP gemacht haben, jetzt als linke Politik verkaufen?“ fragte er sichtlich fassungslos. Angesichts der wiederholt vorgetragenen Zahlenbeispiele über Kitaplätze und Wohnungsbedarf fühlte er sich mehr an eine „Diskussion über Bauwesen als über Menschen“ erinnert. Ganz offensichtlich gehe die Diskussion in Teilen der AL vor allem darum, einen Sündenbock für bereits vorweggenommene Rückschläge rot -grüner Politik zu suchen - und den habe man nun in Gestalt der Aussiedler gefunden.
Der eigentlich brisante Aspekt dieser These, nämlich die mehr oder weniger verborgene Ablehnung vieler Linker gegenüber Aussiedlern, griff allerdings niemand auf. Nur der Historiker Frank Dingel warnte die AL davor, die eigenen Aversionen gegen Aussiedler mit deren politisch reaktionärer Einstellung zu begründen. Damit verschließe man sich der Einsicht, daß Menschen sich auch weiterentwickeln können. Zudem wirke sich dieses Argument irgendwann auch auf andere Ausländer aus; die Aussiedler-Diskussion wäre somit ein Einfallstor, die gesamte Ausländerpolitik der AL zu kippen.
Anstatt jedoch die möglichen politischen Auswirkungen von juristischen und administrativen Maßnahmen in der Aussiedlerpolitik zu diskutieren, wurde politische Etikettierung betrieben: VertreterInnen einer Politik der „offenen Grenzen“ wurde der hehre moralische Ansatz zugestanden, die Verfechter einer wie auch immer gearteten Zuzugsbegrenzung nahmen dafür realpolitischen Pragmatismus für sich in Anspruch. Zwar gehe es auch ihm gegen den Strich, über Aussiedler in ordnungspolitischen Kategorien nachzudenken, räumte Michael Haberkorn von der AL ein, doch müsse sich die Partei vor allem um die bereits hier Lebenden kümmern und stadtpolitische Voraussetzungen für deren Integration schaffen. Dem hielt Heidi Bischoff-Pflanz entgegen, daß Wohnungsnot, Kitamangel und ähnliche Probleme nicht durch eine Senkung der Aussiedlerzahlen zu lösen seien. „Die Probleme hat es auch vorher schon gegeben und die werden dadurch auch nicht gelöst.“ In diesen beiden Positionen hatten es sich die Kontrahenten gegen Ende der Debatte bequem gemacht. Die Argumente begannen sich zu wiederholen, ohne daß man einen Schritt weiterkam. Entsprechend unzufrieden verließen viele TeilnehmerInnen nach Ende der Diskussion den Saal. Da mache es wohl mehr Sinn, resümierte Heidi Bischoff-Pflanz, eine Arbeitsgruppe aus allen Bereichen der AL zum Thema Aussiedler wieder einzurichten.
anb
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen