: Skandale in der Theorieanreicherungsanlage
■ Über einen publizistischen Versuch, politische Skandale in Industriegesellschaften aufzuarbeiten / Ein Lob den von interessierter Seite gerne totgesagten Gesellschaftswissenschaften / Etwas mehr Bekennermut hätte nicht geschadet
Mit Skandalen verdienen Politiker ihr täglich Brot und einiges mehr; sie hätten anderes verdient. Je eher also Skandale zum Handwerkszeug politisch aufgeklärter BürgerInnen gehören, desto besser für die Volksherrschaft. Ein neuer Band verspricht, uns dabei voranzubringen.
Ebbighausen, Rolf/Neckel, Sighard (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. 417 S., broschiert, 22 DM.
Von theoretischen Einführungen in Funktion und Ablauf des Skandals spannen sich 17 Beiträge über Ausflüge in die Geschichte zu Ursachen, Inszenierungen und Folgen von Skandalen in Industriegesellschaften. Der Bundesrepublik, den USA (im Vergleich: Watergate/Iran-Gate) und auch sonst bemerkenswert - der Sowjetunion sind eigene Beiträge gewidmet.
Einige prachtvolle Essays enthält der Band. Sighard Neckel zum Beispiel bietet eine Orientierungshilfe in diesem gar nicht mehr kleinen Forschungsfeld, indem er die vorliegenden Arbeiten kritisch unter dem Gesichtspunkt sichtet, inwieweit Skandale als Kontrolle abweichenden Verhaltens der Machthaber begriffen werden können. Herfried Münklers Miniatur über politische Pornographie und sexuelle Übergriffe auf die Frauen und Kinder der Untertanen zeichnet nach, wie Liebeshändel zur Nagelprobe der Tyrannis wurden und diese Bedeutung im 19.Jahrhundert wieder einbüßten - aus Gründen, die tiefer saßen als Eifersucht im Herzen des Höflings. Wolfgang Schuller entwickelt anschaulich anhand von Skandalen der griechisch-römischen Antike Ansatzpunkte einer vergleichenden Skandalforschung. Dagmar REESE schildert eindringlich nah am historischen Material den Sklarek-Skandal von 1929: Die 1925 an die Gebrüder Sklarek privatisierte Altkleiderverwertung der Stadt Berlin, die über die Bezirksämter die Wohlfahrt beschickte, überlebte nur dank des Recyclings kommunaler Kredite in Form von Schmiergeldern für neue Kredite. Die Sklareks hatten mit Politkern aller „Systemparteien“ und sogar der KP unter einer Decke gesteckt - außer den Nazis, die prompt massive Wahlgewinne verzeichneten, zumal sie auszunutzen wußten, daß die Sklareks jüdische Aufsteiger waren. REESE überläßt es uns LeserInnen, die mitunter gespenstischen, mitunter grotesken Parallelen zu jüngeren Berliner Sumpfblüten zu entdecken.
Die meisten AutorInnen kommen aus der Soziologie, einige aus der politischen, der anthropologischen und der Geschichtswissenschaft. Die Vielseitigkeit der aufgegriffenen Gesichtspunkte zeigt uns die Möglichkeiten, die in interdisziplinärem Herangehen stecken; hier wird es allerdings eher additiv verwirklicht, jede/r liefert ein bißchen. Doch das allein vertreibt schon den Ruch der Schrebergarten-Forschung, deren Geist mit brauchbarer Gesellschaftswissenschaft unvereinbar ist.
„Wie üblich“, hätte der große E.A. Dölle freudant bemäkelt, „das Detail steckt im Teufel.“ Zunächst in editorischen Feinheiten. Rund ein Viertel des Buches besteht aus Second -hand-Texten, der älteste von 1963; unverständlich, warum ein Quellennachweis (bis auf einen Fall) unterblieb. Die Auswahl älterer Texte hätte eine Begründung erfordert. Warum nicht andere, ebenso wichtige?
Glucksmanns abgedruckte Sekundäranalyse über die Makah -Indianer zum Beispiel zeigt uns, wie die gesellschaftliche Einrichtung „Skandal“ der Gleichheit aller vor den Normen dient; das können wir nicht umstandslos auf Industriegesellschaften, ihr Gewirr säuberlich umfriedeter Vorteilsnahmen, eingeregelter Verwüstungszwänge und wohldurchdachter Wahnideen (der Soziologe nennt solches gerne „Komplexität“) übertragen, wie auch die anderen Aufsätze erweisen. Wesentliche Forschungsbeiträge - Aymes massenpsychologisch bestäubte Pionierarbeit (1938), Shermans Studie des Skandals als Kurruptionsbremse für die Polizeiabteilungen amerikanischer Großstädte (1978), Kochs erschütternde Untersuchung der Allgegenwart sexueller Denunziation (1986) - werden lustlos-beiläufig oder gar nicht aufgegriffen. Dafür loben sich manche Autoren liebevoll gegenseitig. Ein Artikel (S. 175) trägt nicht zu knapp Noacks zentrale These von 1985 vor, die politische Korruption in der Bundesrepublik habe von einzelnen Berufs und Funktionsgruppen, von Beamten oder Abgeordneten, nun als „großes Netzwerk“ auf die politische Willensbildung selbst übergegriffen und damit eine neue Qualität gewonnen; besagter Artikel benutzt sogar diese Begrifflichkeit... und verbannt den Herkunftstext unter „ferner liefen“ unauffällig in eine Fußnote, was boshafte Zeitgenossen zu häßlichen Deutungen reizen muß. Derlei gäbe es mehr zu berichten. Register und ein einheitlicher Literaturnachweis hätten dem Eindruck handwerklicher Nonchalance vielleicht abgeholfen; es gibt sie nicht.
Beckmessereien? Kaum. Denn bei jedem Buch zu diesem Thema liegt der in der Einleitung ausdrücklich dementierte Verdacht nahe, da solle, lukrative Medienenthüllungen wiederkäuend, ein beliebtes Partythema billig beschickt werden, wie das mehr als eine „Skandalchronik“ der letzten Jahre tat. Nicht so dieses Buch! Obwohl streckenweise zweiter Aufguß, sind die Texte an einem Ort handlich zugänglich, einige erstmals auf deutsch, und von unbestreitbarem Wert.
Stellenweise scheint allerdings die voyeuristische SPIEGEL -Denke in machem Kopf breitere Schleifspuren hinterlassen zu haben, als seiner Urteilskraft gegenüber der hohnlächelnden Raubgier und Zerstörungswut der Mächtigen guttut. Weniger in einzelnen Worten und Wendungen, unaufdringlich zwischen Zeilen klebt dieser Stil: Politik als Intrigantentheater, und Marionetten hängen an jedem Ende jedes Fadens, heillos aber lachhaft verstrickt. Psychologismen - so sei „es praktisch immer derselbe Typ von Charakteren, der in Skandale verwickelt ist“ (Markovitis/Silverstein, S.154), oder der Versuch, kollektive Identifikationsbereitschaften aus Politikerbiographien herzuleiten, wie umsichtig durchdacht auch immer (Bude) - liegen in der Logik der ausführlich abgehandelten Inszenierungsperspektive. Gegen handfeste empirische Beweisführungen herrscht, außer in den geschichtlichen Aufsätzen, zumeist heilignüchterne Abstinenz. Dadurch bekommen insbesondere die Skandalfolgenabschätzungen Neckels und Ebbighausens leicht spekulativ-theoretische Schlagseite, bieten viele Beiträge bei allem Gedankenreichtum eher Phänomenologien als Analysen. Was nicht heißen soll, es gäbe keine Datenunterlage. Eingehend empirisch erforscht sind zum Beispiel die Sozialisationsfolgen Watergates, die Hinterträgerei der Demoskopie und Stereotypen der veröffentlichten Meinung in Skandalen.
Da ist viel gelassene, breit belesene, oft spritzige Intellektualität, viel Vergnügen an theoretisch -soziologischer Terminologie, viel Sowohlalsauch, Brechung, „Ambivalenz“ - liegt's nur am schillernden Thema? Betrachtung wird Beschaulichkeit, mit verspieltem Spott verkleistert. Und mit Formeln. „Reinigung“ ist ein gern gelesenes Wort. Wer? Wie? Wodurch? Von wem? Um welchen Preis? Mit fehlt da & dort der Biß, die Bitterkeit. Aufklärung ist kein Amüsierbetrieb.
Müßig mag scheinen, in einem derart bunten Band eine „Botschaft“ zu suchen. Gleichwohl gibt es möglicherweise sogar eine doppelte: Um Skandale zu kämpfen kann lohnen. Sie bilden eines der letzten gesellschaftlichen Kraftfelder, deren Risiken die Mächtigen dann und wann zwingen, Gebote politischer Rechtschaffenheit (vorübergehend) ernst zu nehmen. Selten genug, gewiß - Hitzler, Bude und andere weisen uns auf dramaturgische Kniffe hin, dank derer Politiker Skandale letztlich sogar als Karrieresprossen nutzen: Aus dem Ruf der Macht-Geld-Sex-Potenz schlagen sie Profit, als besonders abgebrühte Interessenvertreter dienen sie sich für weitere Verflickung an, durch Eklats kanalisieren sie die öffentliche Aufmerksamkeit thematisch, mediengerecht bringen sie ihre werte Person ins Gespräch. Dennoch vergegenwärtigt jeder Skandal, daß es noch rechtliche, stilistische, womöglich gar moralische Vorschriften gibt, denen Herrschaft in diesem Land genügen muß, soll sie auf Anerkennung hoffen dürfen. Diese Vorschriften gilt es wieder und wieder in lebendige Erinnerung zu bringen. Das ist die erste Folgerung. Je richtiger aber das Wort vom „Großen Netzwerk“ zwischen Parteien, Regierung, Verwaltung und Wirtschaft die Wirklichkeit beschreibt, je hilfloser und zynischer BürgerInnen und ihre Initiativen, kritische Presse und Justiz dem eklen Ringelpiez zusehen zu müssen glauben, desto wichtiger wird der Skandal nicht nur als Kontrollorgan im Einzelfall. Sondern desto wichtiger wird, ihn nicht mit dem Austausch der Bösewichter auf sich beruhen zu lassen: Ursachen politischen Fehlverhaltens, des regelmäßigen zumal, die ja auch die Bedingungen der Skandalabwicklung bestimmen, müssen ins Blickfeld der öffentlichen Auseinandersetzung gerückt werden. Nicht Personen sind zu skandalisieren, sondern Verhältnisse, Einrichtungen, Organisationen. Das ist die zweite Folgerung.
Eine „Anatomie“, die der Titel ankündigt, stelle ich mir anders vor: geordneter, geschlossener, gewissenhafter. Etwas mehr Bekennermut hätte manchem Aufsatz, etwas mehr editorische Sorgfalt dem ganzen Band nicht geschadet. Trotzdem ein erfreuliches Buch; die von interessierter Seite gern totgesagten Gesellschaftswissenschaften halten noch allemal erfrischend lesbare, anregende und nutzbringende Einsichten bereit.
Thomas Kliche
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