„Freies und kein wirres Denken“

Mit der Gründung der „Freidenker“ will die DDR-Führung den Kirchen kritische Geister abspenstig machen / Erfolg scheint zweifelhaft  ■  Von Matthias Hartmann

„Will der neue Freidenkerverband die Kirche der Kommunisten werden“, fragte unlängst eine Zuschauerin der Sendung „Urania Extra“ im DDR-Fernsehen. „Nein“, lautete die einsilbige Antwort. Doch abwegig ist der Gedanke nicht. Denn der am 7. Juni gegründete „Verband der Freidenker der DDR“ (VdF) ist im konfliktreichen Spannungsverhältnis zwischen Kirche und SED angesiedelt. Freidenker sollen seelsorgerische Aufgaben übernehmen, ethische Defizite auffüllen und, so interne Papiere, den kirchlichen Einfluß auf kritische Köpfe zurückdrängen.

Bekannt wurde das Vorhaben erst im Januar. Im Schnellverfahren wurden rund 3000 Mitglieder gewonnen, wie der Verbandspräsident Helmut Klein, Ex-Rektor der Ost -Berliner Humboldt-Universität, mitteilte. Am besten sollen sich die Freidenkenden in der Hausgemeinschaft organisieren. Ansonsten entsprechen die Verbandsstrukturen dem bewährten Modell des Zentralismus - aufwärts von der Kreis- und Bezirksebene bis zum Zentralvorstand. Mitglied kann werden, wer wenigstens 14 Jahre alt ist und „sich um die Klärung philosophischer, weltanschaulicher und ethischer Fragen“ bemüht.

Vierzig Jahre lag die Tradition des deutschen Freidenkertums in der DDR unter der Parteiräson verschüttet. Was aber macht die Verbandsgründung nach vier Jahrzehnten erforderlich? „Es gibt ein gewisses Defizit in unserer Gesellschaft in bezug auf das, was als Lebenshilfe im individuellen Bereich bezeichnet wird“, erklärte Verbandspräsident Helmut Klein im DDR-Hörfunk. Bei schweren Krankheiten, Verzweiflung im Alter oder dem Tod naher Angehöriger sei jedoch guter Rat teuer.

Lange Zeit interessierten sich marxistische Philosophen kaum für Leid, Tod und Trauer. In ihrem Blickfeld stand der aktive, leistungsfähige, der gesellschaftlich produktive Mensch. In der Praxis mußten Pfarrer Behinderten oder Sterbenden Trost zusprechen. Zukünftig sollen hier Freidenker aktiv werden. Gedacht ist an regelmäßige „Lebenshilfesprechstunden“ oder - in Zusammenarbeit mit der „Volkssolidarität“ - an Gesprächsangebote in den „Feierabendheimen“ für alte Menschen. Weltliche Telefonseelsorge in Gestalt bereits bestehender „Telefone des Vertrauens“ sollen noch verstärkt werden. „Auch die Lebenslage der Homosexuellen soll Gegenstand sein“ und „man will sich auch um Haftentlassene kümmern“, teilten DDR -Zeitungen nach der Verbandsgründung mit.

Breiten Teilen der Bevölkerung, die nicht mehr auf die traditionellen Hilfen der Kirche zurückgreifen, sollen die Freidenker zur Seite stehen. Die Kirche kann nicht mehr allen Erwartungen und Ansprüchen der von staatlichen Institutionen Frustrierten gerecht werden.

Insgesamt sollen die Freidenker der Gesellschaft ein buntes, „optimistisches“ Gepräge geben. Ziel sei es, „das gemeinschaftliche Leben von Bürgern kulturvoll zu gestalten“ - mit „Heimat- und Kinderfesten, Wanderungen und öffentlichen Abenden“. Es wurde bereits eine „Freidenker -Kneipe“ eröffnet. Auch die verkümmerten sozialistischen Feiern sollen neue Impulse erhalten. Denn was als Konkurrenz zur kirchlichen Taufe, Konfirmation, Firmung, Hochzeit oder der Bestattung in den DDR-Gründerjahren initiiert wurde, war nie so recht von der Bevölkerung angenommen worden.

Ein weiterer wichtiger Komplex ist die Einbindung kritischer Intellektueller in gesellschaftliche Strukturen mit Hilfe des neuen Verbandes. Denn hier soll „frei von Dogmen aller Art“ diskutiert werden, es soll „keine Tabus geben“ und dort, wo Defizite aufgespürt werden, sollen sie auch offen benannt werden, wurde im DDR-Fernsehen versprochen. Als „neue und schwierige Fragen, die das Leben stellt“, nennen die Freidenker die Bereiche „Krieg und Frieden, Unterentwicklung in der Dritten Welt, Umweltschutz, aber auch die innere Entwicklung im Sozialismus oder Fragen nach dem Sinn des Fortschritts“. Braven Bürgern, denen Intellektuelles verdächtig ist, wurde versichert: „Freies Denken hat nichts mit wirrem Denken zu tun, hat auch nichts mit Schwätzereien zu tun und orientiert sich an den Erkenntnissen der Wissenschaft und ist frei von dogmatischen Positionen jeglicher Art.“

Drahtzieher im Politbüro

Daran, daß die Initiatoren des neuen Verbandes im eher dogmatisch ausgerichteten SED-Politbüro sitzen, gibt es kaum Zweifel. Denn die Konstituierung einer gesellschaftlichen Organisation in der DDR ohne allerhöchste Legitimation ist nicht denkbar.

In den vergangenen Jahren war die Kirche zum Anziehungspunkt auch für kritische Intellektuelle geworden, die sich als religionslos verstehen. Nun ist die Partei in die Offensive gegangen und begegnet der Kirche mit einer Konkurrenzorganistaion. Mit dem Flair des Freigeistigen sollen die Freidenker die Anziehungskraft der Protestanten mindern. Kritische und oppositionelle Köpfe werden - so das strategische Kalkül - der Kirche wieder entzogen und für den Staat zurückgewonnen.

Im April wurde ein internes Papier aus der Propaganda -Abteilung der FDJ bekannt, das Vorüberlegungen für die ideologische Ausrichtung der Feidenker enthält. Vor allem der kirchliche Einfluß auf junge Leute solle eingeschränkt werden, heißt es darin. Ferner soll der neue Verband „kirchlichen Kreisen“ offensiv begegnen. Und zwar den Kreisen, die „ihren religiösen Einfluß erweitern“ wollten und angeblich „politisch zu mißbrauchen“ suchten, wie es heißt - gegen die Politik der Staatsführung. Nach dem FDJ -Papier gingen die gesellschaftlichen Probleme die in den Friedens-, Bürgerrechts- und Umweltkreisen thematisiert werden, die Kirche nichts an. Die FDJ-Propagandaabteilung charakterisierte die Arbeit der Kirchen folgendermaßen: „Oft unter Zurückstellung religiöser Inhalte und Glaubensfragen wird die Kirche als Treffpunkt junger Leute angepriesen. Durch konzentrierten Einsatz der Kräfte, Mittel und Kader wird eine größere Attraktivität ihrer Veranstaltungen auch für Jugendliche mit hohem Bildungsniveau angestrebt.“

An anderer Stelle heißt: „Im Zentrum der Argumentation bestimmter kirchlicher Kreise stehen Angriffe auf unser sozialistisches Menschenbild und unsere Ideale und Werte, denen ein sogenanntes „christliches“ Persönlichkeitsideal entgegengestellt wird ... Entwicklungsfragen unserer Gesellschaft und Beispiele sozialismusfremden Verhaltens werden aufgebauscht und zu Mängeln unseres Gesellschaftssystems hochstilisiert.“

Die Attraktivität des geplanten, von oben zentralistisch eingesetzten und bislang professoral ausgestatteten Freidenkerverbands steht freilich auf einem anderen Blatt. Der Spruch „Von oben nach unten wächst gar nichts“ hat in der Umweltbewegung der DDR bereits seine Runde gemacht. Und dort hat auch das Schicksal einer anderen Institution vorgeführt, daß staatlich verordnete Integrationsbemühungen um kritische Leute wenig erfolgreich sind. So hat die „Gesellschaft für Natur und Umwelt“, ein Ableger des staatlichen „Kulturbundes“, unter Umweltgruppen bis heute keine wirkliche Akzeptanz erfahren.