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Warum sich in letzter Zeit so einiges verändert hat

Alasdair Gray

Die Fachbereiche für Malerei an den Hochschulen für moderne Kunst sind überfüllt mit unzufriedenen Studenten. Eines Tages sagte Mildred zu mir: „Mir reicht's. Ich habe keine Lust mehr. Ich will meine Zeit nicht länger vertrödeln. Morgens um zehn beginnen wir mit der Arbeit, und eine halbe Stunde später ödet sie uns an. Dann werfen die Jungens mit Papierkügelchen, und die Mädchen stehen an der Heizung und reden. Danach langweilen wir uns, und weil uns nichts Besseres einfällt, gehen wir in die Mensa und trinken Kaffee und sind unzufrieden. Ich habe es satt. Ich will was Vernünftiges machen, etwas, was mich begeistert. Irgendwas.“ Ich sagte: „Grab einen Tunnel.“ „Wie?“ „Geh in den Keller, statt Kaffee zu trinken, wenn du dich langweilst, und grab einen Fluchttunnel.“ „Aber wenn ich fliehen will, brauche ich doch nur durch die Tür zu gehen und nicht mehr zurückzukommen.“ „So kannst du nicht entkommen. Man würde dir höchstens das Bafög streichen, und du müßtest dir einen Job suchen, um Geld zu verdienen.“ „Aber wohin soll ich den fliehen?“ „Das ist unwichtig. Voller Hoffnungen reisen ist besser als irgendwo ankommen.“

Mein Vorschlag war nicht ernst gemeint, aber er fand am Fachbereich großen Anklang. Im Keller, den nur selten jemand betrat, wechselte man eine Steinplatte gegen eine getarnte Falltür aus. Dann hob man unter den Fundamenten der Uni eine Höhle aus. Dort begann der Tunnel, und dort bedienten die jeweiligen Arbeitsschichten auch die Winde, mit der man die Kisten Erde und Geröll nach oben zog, um dann den Abraum in kleine Säckchen zu verpacken, die sich leicht unter der Kleidung nach draußen schmuggeln ließen. Die Uni war auf einem Vulkansteinplateau errichtet worden, einen Wandeinbruch brauchte man deshalb nicht zu befürchten. Es war auch nicht nötig, den Tunnel mit Grubenholz abzustützen. Ein Lösungsmittel, das man mit einer Sprühdose auf die Felsoberfläche auftragen konnte, weichte das Gestein zu Schotter auf und erleichterte das Graben. Das Verdienst für diese Erfindung lag beim Fachbereich für Industriedesign. Die Studenten dieses Fachbereichs verachteten zwar die tunnelgrabenden Maler, aber die technische Herausforderung reizte sie. Ohne ihre Hilfe hätte der Tunnel nie die Tiefe erreicht, die er erreichen sollte.

Obwohl das Projekt so erfolgreich begann, rechnete ich damit, daß es wie die Zeitung, der Debattierklub oder der geplante Ausflug nach Linlithgow an fehlender Unterstützung eingehen würde. Ich war daher überrascht, als noch nach drei Monaten die Begeisterung zunahm. Das Studentenparlament war mehrheitlich mit Mitgliedern des Tunnelkomitees besetzt, die unaufhörlich Feten organisierten, mit derem Erlös der Einbau stärkerer Maschinen bezahlt werden sollte. Im ganzen Haus machte sich eine gewisse Spannung bemerkbar. Schon beim kleinsten Geräusch zuckten die Studenten zusammen, lachten lauthals über banale Witze oder brachen grundlos einen Streit vom Zaun. Vielleicht hatten sie unbewußt Angst davor, daß der Tunnel auf einen aktiven Vulkanschacht stoßen könnte, aber bisher waren weder Temperaturanstieg noch Wassereinbruch oder Grubengas festgestellt worden. Manchmal wunderte ich mich, wie sich ein solches Projekt so unbehelligt entwickeln konnte. Ein technisches Unternehmen, das von mehreren hundert Menschen unterstützt wurde, konnte man schließlich kaum ein Geheimnis nennen. Außenstehende taten entsprechende Gerüchte natürlich als fanatische Erfindungen ab, aber warum schritt keiner der Lehrer ein? Nur eine Minderheit der Dozenten unterstützte aktiv das Projekt; zwei weitere hatte man bestechen müssen, damit sie kein Wort verrieten. Ich bin mir sicher, daß der Direktor und sein Stellvertreter nichts gewußt haben, aber was war mit dem Rest, mit denen, die Bescheid wußten, aber nichts gesagt haben? Rechneten sie damit, daß der Tunnel auch ihnen eine Möglichkeit zur Flucht bieten würde?

Eines Tages wurde die Arbeit am Tunnel unterbrochen. Die erste Schicht, die sich während der Frühstückspause an die Arbeit machen wollte, fand den Eingang zum Keller versperrt. Es gab inzwischen mehrere Tunneleingänge, aber alle waren verschlossen, und da sämtliche Mitglieder des Tunnelkomitees verschwunden waren, nahm man an, daß sie sich im Tunnel aufhielten. Dies gab Anlaß zu zahllosen Spekulationen.

Ich habe mich immer von Massenbewegungen ferngehalten. Als ich deshalb eines Abends auf einem einsamen Flur im oberen Stockwerk die Präsidentin des Komitees traf, sagte ich: „Hallo Mildred“ und wäre weitergegangen, hätte sie mich nicht an den Arm gefaßt und gesagt: „Komm mit!“

Sie führte mich einige Schritte bis zu einer offenen Tür, hinter der ich bisher einen stillgelegten Warenaufzug vermutet hatte. Sie sagte: „Setz dich lieber auf den Boden“, schloß die Tür und betätigte einen Hebel. Mit einem schrillen Pfeifton, der manchmal die obere Hörgrenze überschritt, fiel der Aufzug wie ein Stein in die Tiefe. Eine Viertelstunde später schüttelten ihn heftige Bremsschübe, dann hielt der Fahrstuhl an. Mildred öffnete die Tür, und wir stiegen aus.

Wider Willen war ich beeindruckt von dem Anblick, der sich mir bot. Wir standen in einem Korridor mit gewölbter Decke; der Boden war asphaltiert, die Wände mit weißen Fliesen ausgelegt. Links und rechts verlor sich der Korridor in weiten Bögen, die verhinderten, daß man weiter als etwa eine Meile in jede Richtung sehen konnte. „Ausgezeichnet“, sagte ich, „wirklich, sehr gut. Wie habt ihr das bloß geschafft? Die Leuchtröhren allein müssen euch ein Vermögen gekostet haben.“

Bedrückt antwortete Mildred: „Das haben wir nicht gebaut. Wir haben es nur gefunden.“

Während sie sprach, fuhr ein älterer Mann auf einem Fahrrad an uns vorbei. Er trug eine Schirmmütze und ein Armband mit einer Art Abzeichen, davon abgesehen war er nackt; die Luft war sehr warm. Als er an uns vorüberfuhr, hob er die Hand zu einem freundlichen Gruß. Ich fragte: „Wer war das?“

„Irgendein Angestellter. Auf dieser Ebene sieht man sie selten.“

„Wieviele Ebenen gibt es?“

„Drei. Auf dieser liegen die Schlafräume und die Kantinen für das Personal, darunter die Büros für die Verwaltung und noch tiefer die Maschine.“

„Was für eine Maschine?“

„Die, die uns um die Sonne kreisen läßt.“

„Aber die Schwerkraft läßt die Erde um die Sonne kreisen.“

„Hat dir schon mal jemand erklären können, was die Schwerkraft eigentlich ist und wie sie funktioniert?“

Überrascht fiel mir auf, daß das noch niemand getan hatte.

Mildred sagte: „Schwerkraft ist bloß ein Wort, hinter dem die Spitzenkräfte der Wissenschaft ihr Unwissen verbergen.“

Ich fragte sie, wie die Maschine angetrieben würde. Sie sagte: „Mit Dampf.“

„Keine Atomkraft?“

„Nein. Die Jungens vom Fachbereich Industriedesign sind sich ziemlich sicher, daß es sich um eine Dampfmaschine der primitivsten Art handelt. Sie sind unten und messen und zeichnen zusammen mit dem Rest des Komitees. In ein oder zwei Tagen können wir dir ein Bild zeigen.“

„Fragt euch denn keiner, was ihr für ein Recht habt, eure Nase in diese Dinge zu stecken?“

„Nein. Es ist wie bei allen großen Organisationen. Hier läuft soviel Personal herum, daß man überall hingehen kann, wenn man nur selbstbewußt genug aussieht.“

Ich war in einer halben Stunde mit einem Freund verabredet, deshalb stiegen wir wieder in den Aufzug und fuhren zurück nach oben. Ich sagte: „Sicher, Mildred, das hier ist ziemlich interessant, aber ich weiß nicht genau, warum du mir das gezeigt hast.“

Sie sagte: „Ich mache mir Sorgen. Die anderen lachen über die Maschine und überlegen, wie man sie ändern könnte. Sie glauben, sie würden unser Klima verbessern, wenn sie uns in eine Umlaufbahn näher an die Sonne bringen. Ich habe Angst, wir machen etwas falsch.“

„Natürlich macht ihr das Falsche! Ihr sollt Kunst studieren und keine Planetenbewegungen. Ich hätte dieses Projekt nie vorgeschlagen, wenn ich gewußt hätte, daß ihr mich so beim Wort nehmt.“

Sie ließ mich im Erdgeschoß aussteigen und sagte: „Wir können jetzt nicht mehr zurück.“

Ich nehme an, sie ist dann wieder hinuntergefahren. Ich habe sie nie wieder gesehen.

In jener Nacht wurde ich von einer Explosion geweckt, und mein Bett fiel gegen die Zimmerdecke. Die Sonne, die gerade erst untergegangen war, ging wieder auf. Das Meer überflutete die Stadt. Von Erdbeben, Lawinen und Wirbelstürmen bedroht, hockten wir Überlebenden eine lange Zeit zwischen den Ruinen. Die Uhren gingen alle unterschiedlich, und die Sonne blieb stehen, nachdem sie den Stand des frühen Nachmittags erreicht hatte. Die Elemente beruhigten sich schließlich wieder, und wir erforschten die neue Lage. Offenbar ist der Planet in mehrere Teile zerplatzt. Unser Stückchen dreht sich nicht um sich selbst. Wer Sternenlicht und Dunkelheit genießen will, der muß sich auf die andere Seite unserer kleinen Welt begeben, immerhin eine Reise von mehreren Meilen, und die Reise ist ebenso lang für den, der Tageslicht haben möchte.

Es wird nicht einfach sein, das Leben den neuen Bedingungen anzupassen.

Manchmal sehe ich über den sehr nahen Horizont hinaus auf die anderen Reste unserer alten Erde. Wahrscheinlich war eine meiner zufälligen Bemerkungen der Anlaß zu dieser Katastrophe. Das sollte mir eine Lehre sein. In Zukunft werde ich meine Klappe halten!

Übersetzung: Bernhard Robben

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