: Sibiriens Kumpel machen Dampf
■ Jetzt insgesamt hunderttausend im Streik / Solidarität auch von anderen Arbeitern / Offizielle Gewerkschaft noch dabei / „Geben sie uns die Möglichkeit, effektiver zu arbeiten, damit wir besser leben können“ / Parteiführung in der Zwickmühle zwischen Perestroika und Anarchie
Moskau/Berlin (taz) - Die Streiks im Kuznezker Kohlerevier in Westsibirien haben sich trotz Vermittlungsbemühungen Moskaus weiter ausgedehnt. Mittlerweile wächst auch im größten Kohleabbaugebiet der Sowjetunion, im Donezk-Becken, die Unzufriedenheit der Bergleute, meldete die 'Komsomolzkaja Prawda‘ am Sonntag. Insgesamt streikten am Wochenende 100.000 Minenarbeiter.
Für die Moskauer Parteiführung steht eine harte Bewährungsprobe bevor. Die zentrale Forderung der Bergleute, den Zechen und Betrieben wirtschaftliche Selbständigkeit einzuräumen, ist ein Kernelement des eigentlichen Umgestaltungsprogramms. Ihre Widersacher sind im Bergbauministerium und zahlreichen anderen Ministerien in Moskau zu suchen. Daher fordern die Streikenden auch, Gorbatschow und Ministerpräsident Ryschkow sollen in die Verhandlungen eintreten. Ihre zentrale Losung lautet: „Geben Sie uns die Möglichkeit, effektiver zu arbeiten, damit wir besser leben können.“
Die offiziellen Gewerkschaften solidarisierten sich mit den Forderungen der Streikenden. In einigen Gebieten haben sie sogar die Versorgung der Bergleute aus den Gewerkschaftskassen übernommen. Die Unterstützung der Streikkomitees durch die Gerkschaften ist sicher ein Versuch, die Kontrolle über die Streiks nicht zu verlieren. In einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung in der Gewerkschaftszeitung 'Trud‘ hieß es, die Gewerkschaften solidarisieren sich mit den Inhalten der Streiks, ihre Form halten sie für „nicht glücklich“. Die sowjetische Presse war den Streikenden in den letzten Tagen mit großem Wohlwol Fortsetzung auf Seite 2
Minenarbeiter bei einer Streikversammlung im Kohlerevier von Kuzbass, WestsibirienFoto: ap
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len begegnet. Aber am Wochenende schien sich eine Tendenzwende anzudeuten. Mittlerweile ist hauptsächlich von den wirtschaftlichen Verlusten die Rede, die die Streiks verursachen. Die Gewerkschaftszeitung sprach schon von einer „nicht mehr kalkulierbaren“ Entwicklung. In der abendlichen Nachrichtensendung des Fernsehens „Wremja“, die noch am Donnerstag Streiksprecher ausführlich interviewt hatte, wurde am Sonnabend
nur noch auf die zu erwartenden Schäden des Ausstands verwiesen. Die überschwengliche Befürwortung des Streiks nach der Revolution von oben komme nun die von unten, wie zu lesen war -, weicht Befürchtungen, man könne die Kontrolle über den Streik verlieren. Eine Ausweitung der wilden Streiks wäre Wasser auf die Mühlen der Konservativen, die hinter der Umgestaltung schon immer den Ausbruch der Anarchie witterten.
In der Stadt Prokopjewsk drangen bereits Gruppen von Bergleuten in Wohnungen führender Persönlichkeiten ein und durchstöberten sie
nach belastendem Material, berichtete die 'Trud‘. Der Hinweis, Streikposten blockierten den Abtransport der Kohle von den Halden, deutet darauf hin, daß die Kumpels bis zum Äußersten entschlossen sind.
Mit Teilzugeständnissen lassen sich die Arbeiter nicht abfinden, scheint es bisher. Geht Gorbatschow auf alle Forderungen ein, wird sich der Streik auch auf andere Industriezweige ausdehnen, die die völlige Lähmung der sowjetischen Wirtschaft hervorrufen könnte. Neben besseren Löhnen und ausreichenden Lebensmitteln verlangen die Streikenden einschneidende politische
Maßnahmen. Die Beseitigung der Privilegien der Nomenklatura steht ganz oben auf der Prioritätenliste ihrer Forderungen. Darüber hinaus verlangen sie endlich eine Lösung der ökologischen Probleme der Region.
Demzufolge soll der Tagebau gestoppt, Schürfung in Flußbetten untersagt und eine sofortige Rekultivierung der Mondlandschaften in Angriff genommen werden. Außerdem setzten sie sich für eine bessere Bezahlung von Ärzten und Krankenschwestern ein. Das Gesundheitswesen dieser Region soll sich in einem katastrophalen Zustand befin
den. Der Parteichef der Stadt Kemerowo meinte im Fernsehen, die Bevölkerung im Kuznezker Becken, lasse sich nur beruhigen, wenn sie erfahre, welche konkreten Maßnahmen wann zur Beseitigung getroffen werden.
khd
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