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Von Sibirien bis zur Ukraine wird gestreikt

■ Jetzt haben die Bergleute der beiden größten sowjetischen Kohlereviere die Arbeit niedergelegt

Zum ersten Mal werden Massenstreiks in der Sowjetunion nicht totgeschwiegen, sondern vom Fernsehen begleitet. Die ausländischen Korrespondenten in Moskau können zwar noch nicht vor Ort recherchieren, aber immerhin liefert ihnen die Parteizeitung 'Prawda‘ anschauliches Material über Streikforderungen und Verhandlungen. - Das ukrainische Donbass-Becken, das sich am Montag dem Ausstand angeschlossen hat, wurde vor über 100 Jahren erschlossen und ist immer noch die wichtigste Kohlelagerstätte. Zwar gibt es in Sibirien neben dem Kusbass-Becken, wo die Streiks begonnen hatten, noch mächtigere Vorkommen, aber die dort vorhandene Kohle hat einen geringeren Brennwert und ist wegen des ungünstigen Klimas kaum abzubauen.

Es ist Montag abend. Das sowjetische Fernsehen meldet nicht nur als erstes Medium, daß sich die Kumpel von acht Gruben der ukrainischen Stadt Makajewka im Herzen des Donbass -Kohlereviers dem Streik ihrer sibirischen Kollegen angeschlossen haben - es präsentiert auch gleich Bilder vom Geschehen. Auf den Bildschirmen sehen die Leningrader und Moskauer eine Menge behelmter, schwarzgesichtiger Bergleute, die auf einem Platz in Makajewka den Rednern lauschen, und denen sich gerade eine Gruppe von jungen Frauen anschließt.

Die Anwesenden, so berichtet der Reporter, beschuldigen die Gewerkschaften, ihre Interessen nicht vertreten zu haben. „Manche wollen wissen, warum man hier 10 bis 12 Jahre auf eine Wohnung warten muß“, zitiert er die Streikenden und fährt fort: „Die größte Kränkung für viele aber besteht darin, daß es für sie praktisch unmöglich ist, einen Platz in einem Sommerferienort zu bekommen, wie ihn sich die Bosse jedes Jahr verschaffen.“ Neben einem längeren Urlaub und Lohnzuschlag für die Nachtschichten fordern die Kumpel, den bürokratischen Apparat der Hütten stark zu reduzieren, das Wohnungsbauprogramm zu beschleunigen und die bestehenden Werkarbeitersiedlungen zu renovieren. Außerdem geht es ihnen um die Verbesserung von Versorgung und sozialen Dienstleistungen.

Soziale Forderungen

Die Bergleute haben mittlerweile ihre Abgeordneten, die sie im März in den Moskauer Kongreß der Volksdeputierten gewählt hatten, gebeten, vorübergehend in die Heimat zu kommen, um dem Obersten Sowjet anschließend ein Dokument zu überbringen, in dem die Positionen der Arbeiter dargelegt werden. Im Kusbass-Gebiet waren am vergangenen Sonntag die Strände und Freizeitparks verödet. Die Straßen und Plätze dagegen leerten sich weder Tag noch Nacht, Hunderte von Menschen, viele in Berufskleidung und Bergmannsmützen, hingen an den Lautsprechern und warteten auf neue Nachrichten.

Im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stand, einem Bericht der 'Prawda‘ vom Dienstag zufolge, das Treffen von Vertretern der Streikkomitees aus elf Städten des Gebietes im Artjom-Kulturpalast der Stadt Prokopjewsk, das in der gesamten Region per Rundfunk direkt übertragen wurde. Die Diskussionen hätten dabei, so meint die 'Prawda‘, „über das zuträgliche Maß hinaus Wellen geschlagen“.

Die 'Prawda‘ meldete auch, daß im Saal des Kulturpalastes eine Menschenmenge den Fernsehauftritt von Staatspräsident Gorbatschow und Ministerpräsident Ryschkow verfolgte, in dem diese verkündeten, man habe eine Sonderkommission in das Kusbass-Gebiet entsandt, und die Streikenden dazu aufriefen, den gesunden Menschenverstand zu bewahren.

Die Streikdelegierten brachten vor allem ihre Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Tempo der Perestroika zum Ausdruck: Die Ämterwirtschaft, die soziale Vernachlässigung des Gebietes, besonders der Städte Prokopjewsk und Kisseljowsk, die dramatische ökologische Entwicklung - dies alles fordere sofortige Lösungen. Die Zeitung 'Sowjetskaja Rossija‘ berichtet ergänzend, die Vertreter der Streikkomitees seien nicht bereit gewesen, sich mit dem in der Stadt anwesenden Minister für Kohlewirtschaft, Michail Schtschadow, zu treffen, weil sie es für dringlicher hielten, zuerst die eigene Position zu klären. Der Beobachter der 'Sowjetskaja Rossija‘ bescheinigt den Versammlungsteilnehmern „Verantwortungsbewußtsein“, bezweifelt aber ihre Sachkompetenz, vor allem in jenen Fragen, die die ökonomische Selbständigkeit der Bergwerke betreffen.

Diskutiert wurde zum Beispiel über den Vorschlag, daß die Kollektive in Zukunft selbst wählen sollen, ob sie ihre Unternehmen als Staatseigentum, Kooperativen oder Pachtbetriebe weiterführen wollen.

„Die Emotionen

schlagen hoch“

Um die örtlichen Sowjets zu stärken, will man in Zukunft zwanzig Prozent des Gewinns an sie abführen, dagegen nur zehn Prozent an den Staat. „Quälend lange, nicht nur eine Stunde oder zwei“, schreibt dazu der 'Prawda'-Reporter, werden diese Punkte diskutiert: „Am Ende geht es darum, wie die eingenommenen Devisen verteilt werden sollen. Irgendjemand schlägt vor, 40 Prozent an den Staat abzuführen, aber der nächste hat etwas dagegen: 'Warum nicht volle 100 Prozent für das Unternehmen?‘ Ein Dritter wirft ein: 'Und wovon soll dann der Staat den vielzitierten Weizen kaufen?‘ Ein Vierter beunruhigt sich: ‘ Vielleicht verhandeln wir hier überhaupt Unsinn, und die Leute draußen werden uns nicht verstehen. Die wollen, daß wir die Fragen des Lohns, der Renten und der Versorgung lösen.‘ Zur Antwort bekommt er, daß die erste Gruppe von Forderungen überhaupt erst die Voraussetzung dafür bilden kann, daß auch der zweite Katalog eingelöst wird. Die Emotionen schlagen hoch.“

Um das eigene Programm weiter auszuarbeiten, wählten die Anwesenden aus ihrer Mitte ein Gebietsstreikkomitee mit je zwei Vertetern der örtlichen Komitees. Zum Vorsitzenden wählten sie T. Awaljan, den stellvertretenden Generaldirektor des „Kisseljowsk-Kohle-komplexes“, Abgeordneter im Kongreß der Volksdeputierten. Dieses Gesamtstreikkomitee hatte am Montag und Dienstag Gelegenheit, mit der neuen Regierungsdelegation Fragen zu erörtern, die - wie eine Erhöhung des Gewinnanteils, der in der Region verbleibt - über die Kompetenzen der anwesenden Wirtschaftsführer und auch des Kohle-Ministers hinausgehen. Die Kommission wird von Politbüromitglied Nikolaj Sljunkow geleitet, ihr gehört auch der erste Stellvertreter von Staatspräsident Gorbatschow, Woronin, an. Vor ihrem Treffen mit den Streikvertretern in Prokopjewsk machten die Politiker in Kemerowo eine Zwischenlandung, wo sie auf dem „Platz der Sowjets“ mit den Arbeitern diskutierten. Ministerpräsident Ryschkow forderte am Dienstag in Moskau, die Arbeit des Obersten Sowjet an einer neuen Streikgesetzgebung vorzuziehen.

Barbara Kerneck, Moskau

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