piwik no script img

BÜGELFALTEN WÄLZEN SICH

■ Licedei mit „Katastrophe“ vor dem Reichstag

„Aufregend, ekzessiv, politisch!“ steht im Info-Blatt der Ufa-Fabrik zur Mir-Karavane. „Katastrophe! So ist das also, wenn man stirbt!“ überschlug sich gestern die Bild-Zeitung. Katastrophenspektakel inszenieren ist ein Alltagsgeschäft zwischen Politik, Naturgesetzlichkeit und Medien. Massenwirkung ist garantiert, politische Konsequenz nicht. Kaum probt jedoch eine Off-Theatergruppe die „Katastrophe“, und kommt auch noch aus dem Osten (VÖLKERVERSTÄNDIGUNG! DREHSCHEIBE ZWISCHEN OST UND WEST! GLASNOST! OST!), spricht sogar die Mottenpost von „beklemmender Endzeit-Vision“.

Natürlich ist es beklemmend. Vor blauschwarzem bewölktem Himmel dräut wie immer der Reichstag, aber davor steht eine Traube von Menschen. In ihrer Mitte brennt es in langen Schneisen, drei Clowns in Weltkriegsuniformen fahren mit kleinen Schubkarren zwischen und durchs Feuer, aus Tonnen flackert Feuer, überall liegt Müll. Dazu aus den Lautsprechern ohrenbetäubende Lärmoper, durchs Megaphon das Gröhlen eines Clowns auf Krücken, unverständliche melodische russische Wörterberge, dazwischen manchmal deutsche Brocken: „Achtung!“, „Hubschraubereinsatz!“ (wie bei Maxe Goldt: „Hubschraubereinsatz, Hubschraubereinsatz“). Die Katastrophe, ein Rezital, eine Litanei, eine rauschhafte Beschwörung. Und dann rennt einer als imitierte lebende Flamme durch die Arena, hinter sich her ziehend einen Schweif aus zinnoberrotem Rauch.

Tief einatmen den Brandgeruch. Nichts verpassen. Eine Frau wird aus dem Publikum geholt, abgeküßt von einem dieser verdreckten, traurigen Soldatenclowns, auf ihrer Backe prangt ein weißes Kußmal. Kinder werden evakuiert, neben mir drängelt sich eine Frau mit heulendem Kind nach draußen aus der Menge raus. Mitten in das Lärm- und Nebelchaos fährt die Schöneberger Feuerwehr, eine riesige Schaumspritze schneit Mensch und Müll und Menge ein, die gemütlichen Sitzzuschauer werden vom Boden weggeschwemmt, ein Kameramann filmt zehn Zentimeter vor der eingeschäumten Nase die schreckensstarre Miene des Soldaten ab, die schöne Bügelfaltenhose eingenäßt vom wogenden Schaummeer, Berufsrisiko, heroisch werden kalte Füße ignoriert. Der Fotograf, der vorher mannhaft seine Starperspektive gegenüber allen sonstigen Fotografinnen mit rüden Rempeleien verteidigt hat, hat jetzt das Weite gesucht. Die Licedei-Clowns versinken immer mehr im Schaum, einer rafft sich zu einer pathetischen Geste auf, drei retten sich auf eine Tonne und erstarren zum Heldendenkmal. Aus.

Beifall, Einzug der Gladiatoren rund ums Denkmal. Sphärische Pausenmusik wie die coole Zigarette nach dem Orgasmus. Immer noch bleiben alle stehen im Kreis und schauen zu, wie sich die Licedei in Positur stellen für das sowjetische Fernsehen, der lange Zauberhut fällt immer ins Gesicht und wird ordentlich wieder aufgerichtet. Die ersten wechseln die Seite, um archaische Erfahrungen zu machen. „Ich hab mich absichtlich im Schaum gewälzt, um zu spüren, wie das ist.“ Katastrophe als authentische Selbsterfahrung, als gesellschaftliches Ereignis, es gibt fast keinen Platz mehr im Schaum, man steht, man tanzt, man unterhält sich, Schneeballschlacht, wie früher.

Wer hat nur gesagt, daß das alles mit Tschernobyl zu tun hat? „Wir spielen in jeder Stadt eine andere Katastrophe, das hängt vom Ort und vom Publikum ab“, sagt Slavka von Licedei, „wir improvisieren“. Es gibt keine konkreten Erfahrungen, Anlässe, worauf sich ihre Arbeit bezieht, es gibt verschiedene Ebenen, „jeder sieht, was er sehen will.“

-Alles verschwimmt im Schaum: Naturkatastrophen, ökologische Verbrechen, Geschichte, Opfer, Täter und Mitläufer. „Mit Politik haben wir nichts zu tun, Politik machen die Politiker, wir machen Theater“, sagt Valeri mit den blonden Locken. (Natürlich, in der FAZ steht viel von Gorbatschow und Utopie...) Und die Funktion der Medien? Waren die Voyeure eingeplant? „Das war wohl auch ein Element.“ Die Clowns verramschen ihr eigenes Stück. Besser man versteht sie nicht.

DoRoh

Licedei heute und morgen zusammen mit Svoya Igra (Weltmusik aus Moskau) im Haus der Kulturen der Welt, 20Uhr. Am 25. und 26.Juli, 20Uhr, Zelt2 (Straße des 17.Juni) wird noch einmal das Clownsstück „Assessai“ aufgeführt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen