: Die Krise der Parteien
■ Ein taz-Gespräch zwischen Peter Glotz (SPD), Ulf Fink (CDU) und Thomas Schmid (Grüne)
taz: Sie und wir alle waren über das Berliner Wahlergebnis überrascht. Vermutlich fanden Sie das Wahlergebnis auch nicht sonderlich wünschenswert. Einerseits zeigte sich darin der Anspruch des Wahlvolks auf ziemlich weitgehende politische Veränderung, zum anderen ein weitgehender Dissens mit der Parteienlandschaft. Ist das Berliner Wahlergebnis und auch das der Europawahlen ein Anlaß für Sie, das Verhältnis Parteien und Gesellschaft neu zu überdenken?
Thomas Schmid: Das Problem des Aufkommens wie auch immer gearteter Parteien der Neuen Rechten, wie es in Berlin, Frankfurt und bei den Europawahlen manifest wurde, ist ein unvermeidliches Normalisierungsphänomen. Das schon länger existierende grundsätzliche Problem liegt woanders: Die Konzeptionen der Volksparteien haben notwendig zur Voraussetzung, daß sie etwa vierzig Prozent erreichen können. Mittelfristig und längerfristig erreichen sie die nicht mehr.
Die Idee der großen Volksparteien, man könne die politische Auseinandersetzung in einer Republik im Prinzip in zwei Alternativen bündeln, rechts oder links, funktioniert nicht mehr. Das liegt am Modell Partei. Wenn sie groß sein will, muß sie auf eine eigentümliche Art sehr weit auseinanderstrebende Interessen bündeln. Und deshalb können diese Parteien notwendigerweise nur populäre Projekte durchsetzen. Einen wesentlichen Auftrag der Demokraten, so wie ich ihn begreifen würde, sehe ich aber auch darin, daß auf einem diskursiven Weg die Vorherrschaft materieller Interessen und von Verbänden auch gebrochen werden kann. Das betrifft Gewerkschaften wie Unternehmer und andere Gruppen auch. Gebrochen in dem Sinne, daß darauf verzichtet wird, die Karte der organisierten Macht auszuspielen. Zudem: Der Passus des Grundgesetzes, wonach die Parteien zur politischen Willensbildung beitragen, wurde, polemisch formuliert, von den Parteien als Ermächtigungsgesetz dahingehend betrachtet, daß sie die einzigen sind, die dies tun, und das halte ich für eine unheilvolle Entwicklung.
Peter Glotz: Ihre Vorstellung von einer Politik, in der die Gruppen darauf verzichten, die Karte der Macht auszuspielen, ist unpolitisch. Eine solche Vorstellung von Politik sehe ich auch dann nicht kommen, wenn sich das Parteiensystem ändert. Kleine Parteien, zum Beispiel die Sozialistische Partei Craxis in Italien, spielen ihre Macht mindestens so deutlich, hart und brutal aus wie die großen Parteien CDU und SPD in der Bundesrepublik. Das Parteiensystem in der Bundesrepublik ändert sich. Ich glaube der Individualisierungsprozeß in der Gesellschaft führt dazu, daß es immer schwieriger wird für die großen Parteien. 50 Prozent zu erreichen, ist schon unmöglich geworden, zur Zeit kämpfen die großen Parteien um 40 Prozent, und ich kann mir durchaus eine Situation vorstellen, wo sie um 30 Prozent kämpfen, so wie in Italien, wo die DC oder die PCI trotzdem Volksparteien geblieben sind. Das Problem ist doch folgendes: Die großen Parteien, ihre Apparate, ihre hauptamtlichen Funktionäre sind sich immer ähnlicher geworden, und das Wählervolk wird sich immer unähnlicher. Es gibt zum Beispiel Hunderttausende von Wählern der SPD, die für Kernernergie sind, obwohl die Partei klipp und klar Beschlüsse dagegen gefaßt hat, und es gibt umgekehrt Hunderttausende von CDU-Wählern, die gegen Kernenergie sind, obwohl die CDU sich klipp und klar für Kernenergie entschieden hat. Die Parteiapparate werden sich immer ähnlicher, und das führt dazu, daß dieser „verdammte Wähler immer unzuverlässiger wird“. Das ist ein Prozeß, der immer weiter geht, wenn sich die Parteien nicht ändern. Es gäbe da Möglichkeiten, aber ich bin nicht sicher, daß die Parteien sich ändern wollen.
taz: Sagen Sie das auch Ihrer Partei? Sie haben ja noch als Parteimanager nicht nur in der Hoffnung, sondern auch in der Voraussicht gearbeitet, daß die Grünen eine vorübergehende Erscheinung sind.
Peter Glotz: Ja, ich habe einige Jahre wirklich geglaubt, die Grünen sind ein Phänomen, das wieder vorbeigeht. Inzwischen zeigt sich, zumindest die Grünen sind eine eigene soziokulturelle Landschaft, nicht nur mit Thesen und eigener Programmatik, auch mit eigenen Lebenshaltungen und Lebensstilen. Es ist unwahrscheinlich, das grüne Lager wieder in die SPD zu integrieren. Bei den Republikanern scheint mir das noch ein bißchen anders zu sein. Wenn die CDU morgen in die Opposition ginge, könnte sie die Republikaner wieder einkassieren.
taz: Stimmen Sie, Herr Fink, der Analyse von Thomas Schmid und Peter Glotz über die Volksparteien zu?
Ulf Fink: Unbestreitbar ist das vorherrschende Merkmal unserer Entwicklung derzeit Individualisierung und Pluralisierung. Die Frage ist, ob sich das zwangsläufig darauf auswirkt, daß wir dauerhaft mit einem sehr viel größeren Spektrum von Parteien leben werden. Für die Stabilität von Regierungen und für die Eindeutigkeit von Regierungsentscheidungen sind natürlich klare Mehrheiten ein Vorteil. Andererseits stellt sich die Frage, ob nicht bei uns tatsächlich große Parteien, einfach, weil die Mehrheitsverhältnisse auch in der Vergangenheit sehr eng waren, es ging ja immmer nur um drei, vier oder fünf Prozent Differenz, manchmal noch um viel weniger, nicht doch in einem sehr hohen Maße darauf angewiesen sind, neu aufkommende Programmatiken und Probleme aufzunehmen. Ich frage mich auch, ob nicht das eigentliche Versagen der großen Parteien darin liegt - und das hat nicht zuletzt zum Entstehen neuer Parteien beigetragen, daß die CDU und SPD bestimmte Problemlagen nicht mehr so aufgenommen haben, wie das eigentlich notwendig gewesen wäre.
taz: Ist der Erfolg der Republikaner nicht auch darauf zurückzuführen, daß alle drei Parteien, CDU, SPD und Grüne, es nicht geschafft haben, die Modernisierungsverlierer, es wird ja viel von Zweidrittelgesellschaft geredet, überhaupt noch zu erreichen. Und liegt das nicht vor allem daran, daß es diesen Stau in der Mitte gibt. Ist das nicht das eigentliche Problem der großen Parteien und auch der Grünen?
Ulf Fink: Soziale Ursachen sind sicher ein ganz gewichtiger Grund für die Erfolge der Republikaner. In Berlin war das eindeutig: Wohnungsprobleme und die hohe verfestigte Anzahl von Langzeitarbeitslosen. Für einkommensschwache Schichten ist auf diesen Feldern der Politik nicht genug gemacht worden. Das reicht allein aber nicht als Erklärungsgrund aus. Es kommen zu den sozialen Gründen auch die kulturellen Modernisierungsverlierer hinzu. Es gibt Gebiete, wo relativer Wohlstand herrscht und trotzden der Anteil der Republikaner-Wähler hoch ist. Zum Beispiel betrifft es all diejenigen, die andere Ordnungsvorstellungen haben, als sie bei uns verwirklicht sind.
Peter Glotz: Ich möchte das nachdrücklich unterstützen. Es gibt keine monokausale Erklärung für die Erfolge der Republikaner.
Es gibt in der Tat eben auch kulturelle Modernisierungsverlierer, die bei den Republikanern landen. Es ist beispielsweise auch ein Protest gegen die Veränderung der Familienstruktur, gegen die Emanzipation der Frau. Dieser Protest kommt etwa in Rosenheim von Eigenheimbewohnern mit Bergblick und stellvertretendem Vorsitz im örtlichen Sportverein.
taz: Über die Phänomene kann man sich sehr schnell einigen. Das Problem ist doch, die hier angebotenen Erklärungen sind im Grunde schon vor diesen letzten Wahlen bekannt gewesen. Es stellt sich nach wie vor die Frage nach der Möglichkeit der Parteien, tatsächlich auf reale Entwicklungen in der Bevölkerung zu antworten.
Thomas Schmid: Ich glaube, die Möglichkeiten der Parteien, auf solche Entwicklungen einen Einfluß zu nehmen, sind relativ gering. Es ist doch europaweit eine völlig untypische Leistung der CDU seit 1949 gewesen, das weite Spektrum der Rechten zu integrieren. Das ist ihr nur gelungen, indem sie wesentliche Fragen, die von rechts heute gestellt werden, dethematisiert hat und nur noch rhetorisch damit spielte. Doch dieses Potential ist nicht verschwunden.
Ich finde übrigens die Vorwürfe, die jetzt gegenüber der CDU geäußert werden - angesichts der Republikaner - unfair. Die CDU hat sich ja eindeutig im letzten Jahrzehnt nach links entwickelt. Als sie an die Regierung kam, hat sie aus guten Gründen vieles von dem, was sie vorher bekämpft hat, dann doch nicht in dem Maße in Frage gestellt.
Es hat in der CDU - und das finde ich begrüßenswert - eine massive Öffnung gegenüber dem ganzen Prozeß der Pluralisierung von Lebensstilen stattgefunden. Es ist nicht verwunderlich, wenn jetzt all diejenigen, die damit nicht einverstanden sind, klarmachen, daß sie in der Tat die Priorität weiter auf Familie und zum Beispiel die überschaubaren lokalen Zusammenhänge setzen. Diesen Leuten hat der Modernisierungsjargon, der sich in der CDU durchgesetzt hat, Angst und Bange gemacht. Die Konstellation, die jetzt entstanden ist, hat natürlich mit dem sichtbaren Verfall der CDU als einer politischen Kraft, die an der Regierung das alles noch zusammenhalten soll, zu tun.
Peter Glotz: Ich will gar nicht behaupten, ihre Analyse ist falsch, ich will nur sagen, Sie können mit ihrer Analyse als Spitzenanalytiker der CSU durchgehen. Sie ist vielleicht ganz richtig, aber genau dasselbe sagt die CSU auch.
Thomas Schmid: Nein. Die CSU sagt doch, wenn wir diesen Kurs der ideologischen Modernisierung rückgängig machen, dann gewinnen wir wieder, und das geht eben nicht mehr. Da sind wir wieder bei den Schwierigkeiten der Volksparteien. Die CDU versucht diese Lager irgendwie zusammenzuhalten. Und das ist erst mal unter demokratischen Auspizien ein löbliches Unternehmen. Es funktioniert jedoch immer weniger, weil viele der Projekte, die die CDU an der Regierung versucht hat durchzusetzen, eben so nicht durchsetzbar waren, aufgrund der Renitenz und Mündigkeit der Gesellschaft, wenn man so will. Im übrigen gibt es überall in Europa einen bestimmten Prozentsatz, der rechtskonservativ bis rechtsradikal ist. Davor würde ich in der Bundesrepublik, sie ist stabil genug, erst mal keine Angst haben.
Ulf Fink: Ich will die Frage noch einmal aufgreifen, ob die Parteien in der Lage gewesen wären, die Probleme, die aufgekommen sind, zu lösen. Es gibt eine Reihe von Problemen, zum Beispiel das massive Inanspruchnehmen bezahlbaren Wohnraums, das vor dem Hintergrund der vorhandenen Informationen in Berlin nicht in dieser Schärfe vorausgesehen werden konnte. Man kann ja auch nicht von heute auf morgen diesen Wohnraum schaffen, der muß ja erst gebaut werden. Andere Probleme hätte man nach einer gewissen Zeit anders und besser lösen können. Zum Beispiel das Problem der Massenarbeitslosigkeit. Es war richtig, nach den vielen erfolglosen Versuchen mit Beschäftigungsprogrammen in den 70er Jahren vorrangig auf mehr Investitionen zu setzen, mit denen mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber man hätte nach einigen Jahren erkennen müssen, daß allein diese Gleichung mehr Investitionen gleich mehr Arbeitsplätze nicht hinreicht, eine hohe und wachsende Zahl von Langzeitarbeitslosen damit nicht mehr erreicht wird. Spätestens an dieser Stelle hätte es ein Umsteuern in der Politik geben müssen. Warum gab es dieses Umdenken nicht? Für mich sind das schlichte Fehler eines politischen Erkennens. Denn Methoden und finanzierbare Konzepte für ein solches Umsteuern gibt es.
Peter Glotz: Aber die Interessenkonflikte in Ihrer eigenen Partei haben die Lösungen, die Sie jetzt für richtig halten würden und ich auch, verhindert. Sie konnten nicht durchgesetzt werden.
Ulf Fink: Ich gebe zu, es ist schwer in einer Interessenkonstellation, die sich in dem Punkt einig ist, der da lautet, je mehr privates Engagement, desto besser ist alles, den notwendigen staatlichen Einfluß zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit durchzusetzen. Ich behaupte, die Geschwindigkeit kann sehr viel höher sein, mit der auf bestimmte Probleme reagiert werden kann, und muß nicht zwangsläufig aus der jeweiligen Parteienkonstellation hergeleitet werden. In den Konstellationen der 50er, 60er Jahre, wo CDU und FDP, und in den 70er Jahren, in denen SPD und FDP regierten, war immer wieder ein hohes Maß an staatlicher Einflußnahme möglich.
Thomas Schmid: Ich will noch einmal auf die Frage zurückkommen, die eigentlich im Raum steht: Parteien, Fluch oder Segen? Das ist in Deutschland eine schwierig aufzuwerfende Frage, weil dann gleich der Vorwurf des traditionellen deutschen Anti-Parteien-Ressentiments kommt. Das meine ich nicht. Sie, Herr Glotz, heben ja immer gerne hervor, Parteien sind Organisationen im Weberschen Sinne, zum Machterwerb da, in diesem Sinne konkurrieren sie. Mir soll mal einer erklären, und da sehe ich ein grundlegendes Problem, wie Sie von der Haltung wegkommen wollen, die da bedeutet, wir, die Partei A, ist richtig, Partei B ist falsch.
Peter Glotz: Diese Attitüde könnte schon etwas verändert werden.
Thomas Schmid: Das möchte ich erst einmal sehen, das betrifft übrigens auch meinen eigenen Verein. Jeder, der ein bißchen nachdenkt, und davon gibt es sehr viele in der Republik, jeder, der die Komplexität der Problemlagen kennt, weiß, es geht nicht um wahr oder falsch, sondern um Lösungen, die sehr komplizierte Mischungsverhältnisse darstellen. Was wir im Angebot haben, ist aber im Grunde genommen eben genau das, dieses traditionelle Rechts-Links, sich ausschließende Wege.
Es gibt die ernsthafte These, und die wird ja nicht von Spinnern aufgestellt, daß die strukturelle Arbeitslosigkeit etwas ist, was wir unter Umständen mit den uns bekannten Möglichkeiten, die wir in all unseren Parteiprogrammen nachlesen können, überhaupt nicht beheben können. Es könnte ja sein, daß es ein ausgesprochen schwieriges Problem ist, was auf unserer Gesellschaft lastet, wo man vielleicht in irgendeiner Weise Wege finden muß, solidarisch mit diesem Phänomen umzugehen, aber das man nicht lösen kann. Alle Parteien tun aber so, als gäbe es ihn: den Königsweg zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit. Und genau das nimmt ihnen keiner mehr ab. Es könnte ja sein, daß die Bundesrepublik wie andere Länder auch vor der Aufgabe steht, umweltpolitisch eine Reihe von ganz grundsätzlichen Korrekturentscheidungen, die sehr teuer sein werden, zu treffen. Es stellt sich dann die Frage, wie diese Korrekturen bezahlt werden können, welche Mentalität braucht es dazu, und auf Kosten von was könnte das gehen. Ich glaube, die umwelt- und die sozialpolitische Schwerpunktsetzung bilden kein harmonisches Paar, es ist ein konfliktuelles Paar, und es wird sehr schwierig werden, da eine Gewichtung zu finden. Ich könnte mir vorstellen, daß eine neue sozialdemokratisch geführte Regierung, weil es erst einmal leichter machbar ist und Stimmen bringt, in die sozialpolitische Offensive geht, mit dem ganzen Problemfolgeberg, den es ja schon einmal gab, und daß sich ein gewisser Wiederholungszwang ergibt.
Wir bräuchten aber einen Konsens in dieser Gesellschaft für eine umweltpolitische Schwerpunktsetzung. Dies braucht ein solidarisches Klima - und ich benutze jetzt das Reizwort auch des Verzichts, übrigens gerade auch von oben. Sonst wird eine umweltpolitische Kurskorrektur nicht möglich sein. Solange aber die großen Vereine so organisiert sind als Truppen wie bisher, ist das natürlich gar nicht durchsetzbar.
taz: Das sind doch einige Argumente für eine große Koalition?
Thomas Schmid: Nein.
taz: Aufgrund deiner Analyse ist es die naheliegendste Antwort. Welche denkbaren Konstellationen gibt es mit Ausnahme der Konzeption einer großen Koalition, ausgehend von den gegenwärtigen Parteien auf ziemlich exakt definierbare grundsätzliche Probleme zu antworten?
Peter Glotz: Bevor wir zu einer Koalitionsdebatte kommen, noch ein Schritt zurück. Ich bestreite den Sinn der Frage „Parteien - Fluch oder Segen“. Das ist so, als wenn ich sage, Thomas Schmid, Fluch oder Segen. Es könnte ja sein, daß es weder Fluch noch Segen ist. Sie übertreiben den Individualismus, wenn Sie Parteien und in gleichem Atemzug ja auch Gewerkschaften und Verbände an sich in Frage stellen und sagen, die Attitüde der moralisierenden Rechthaberei, die unsere Parteien in den letzten meinethalben 40 Jahren besonders ausgezeichnet hat, muß auf alle Ewigkeit so weiter gehen. Die Partei muß notwendig so bleiben. Wenn wir so eine Status-quo-Prognose machen, dann kommt unter Umständen in der Tat das dabei heraus, was Sie da an die Leinwand projizieren. Es wäre aber doch auch denkbar, daß diese Parteien veränderbar sind. Ist diese Attitüde moralisierender Rechthaberei eigentlich die einzig mögliche?
Thomas Schmid: Ich gehe von der Erfahrung aus, daß ich einer Partei angehöre, die eben mit diesem Anspruch angetreten ist, eine ganz andere Partei zu sein als die bisher im Parlament vertretenen. Heute gleichen die Grünen bis aufs Haar den anderen. Das ist eine bittere Erfahrung, die sehr ins Gewicht fällt.
Peter Glotz: Dieser Diagnose will ich nicht widersprechen, aber ich füge hinzu, ich sehe auch andere Parteien. Ein Beispiel: Die großen italienischen Parteien nehmen auf ihre Listen alle möglichen unabhängigen Leute, die dann eine eigene Fraktion bilden. Auf diese Weise haben sie eine ganz andere Kultur, die bei uns derzeit völlig undenkbar wäre. Personelle Öffnung wäre meiner Meinung nach eine Notwendigkeit, damit die Volksparteien nicht weiter abschmelzen.
Das gilt auch für die Kommunikation. Wäre es ein so schreckliches Unglück, wenn ein führender CDU-Politiker die Wiedervereinigung für unmöglich hielte und das auch laut sagte und dann immer noch ein führender Unionspolitiker bliebe? Oder wenn eine führende SPD-Politikerin italienische Ladenschlußzeiten für möglich hielte, dies offen sagte und dann immer noch führende SPD-Politikerin bliebe. Die Parteien könnten sich schon verändern und hätten dann eine größere Chance, diesen Auftrag der Volksparteien, unterschiedliche Gruppen anzusprechen, zu erfüllen und in Gottes Namen 40 Prozent zu bekommen. Man kann die Frage stellen, ob sie die Kraft haben, sich so zu verändern, einverstanden.
Ulf Fink: Ich teile diese Auffassung. Es wäre wirklich falsch, nur noch von einer Sachgesetzlichkeit auszugehen, die wir erkannt zu haben meinen, von der Zwangsläufigkeit von immer mehr Parteien. Es geht nicht nur darum, zu überlegen, wie man in einer solchen Situation denn künftig Regierungen bilden kann. Wir müssen versuchen, eine solche Entwicklung zu verhindern.
Thomas Schmid: Partei - Fluch oder Segen, darüber will ich gar nicht ernsthaft diskutieren. Ich sage nur, und das ist ja wohl Konsens, daß Demokratie eine der schwierigsten Formen ist, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten, und das bedarf der ständigen Verbesserungen im Umgang miteinander. Es ist doch wohl unbestreitbar, daß die Demokratie in der Bundesrepublik von oben und außen eingeführt worden ist und als Besitzstand, wir haben sie nun einmal, gehandhabt wird. Die Phantasie - sie haben eben von den offenen Listen in Italien gesprochen -, wie man die Parteien öffnen kann gegenüber der Gesellschaft, diese Phantasie ist in der Bundesrepublik extrem unterentwickelt.
Peter Glotz: Einverstanden.
Thomas Schmid: Ich habe nichts dagegen, daß die Parteien in der Bundesrepublik an der politischen Willensbildung mitwirken, wie es im Grundgesetz steht. Die Parteien haben hier aber ein zu großes Gewicht. Die Gesellschaft im Hannah -Arendtschen Sinne, die Selbstinitiative der Gesellschaft, die sich auch Formen gibt, die ist in der Bundesrepublik unterentwickelt.
taz: Wie kommen wir aus diesen Desideraten heraus, welche praktischen Phantasien sind notwendig?
Peter Glotz: Wir brauchen eine Verfassungsdebatte in der Bundesrepublik. Um es ganz konkret zu sagen: Wir werden sehr viel schwierigere Koalitionsverhältnisse bekommen. Konstellationen, in denen unter Umständen über die Parteien über Jahre relativ wenig zu bewegen ist. Verhältnisse, wie wir sie in Italien oder Belgien schon seit Jahrzehnten haben. Ob wir nun über Ampel- oder große Koalition reden, was immer man da will, es sind keine großen Schritte möglich, weil die Partner sich gegenseitig hindern. In dieser Situation, da hat Schmid recht, muß man neben den Parteien auch politische Initiativen der Bevölkerung möglich machen. Deshalb bin ich zum Beispiel für ein Volksbegehren auf Bundesebene. Ich bin auch, wie Bettino Craxi in Italien, für eine Direktwahl des Präsidenten und eine mäßige Verstärkung seiner Kompetenzen um eine weitere politische Kraft, die politisch Handeln kann, ins Spiel zu bringen. Wenn man eine Entwicklung zuläßt, in der sich die Parteien gegenseitig mattsetzen können und gleichzeitig alle Macht den Parteien läßt, dann führt das zu einem Deadlock, zu einem Festzurren, das große Unzufriedenheit bei der Bevölkerung auslösen wird.
Ulf Fink: Einer der wichtigsten Anstöße für Selbstreflexionen der Parteien sind ja Wahlergebnisse. Berlin und die Europawahlen haben einen erheblichen Einfluß auf das, was innerhalb der Parteien jetzt geschieht...
Peter Glotz: In allen Parteien ist bei solchen Nachwahldiskussionen die Gefahr der Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei groß. Reicht der Selbstreflexionsprozeß der Parteien wirklich als einzige Schubkraft aus?
Ulf Fink: Durch schlechte Wahlergebnisse bewegt sich schon etwas in Parteien. Wir diskutieren zum Beispiel auf unserem Parteitag im Herbst ein Organisationspapier, das ist zumindest ungewöhnlich, passiert normalerweise nicht. Es gibt ja auch innerhalb der Volksparteien bestimmte Mechanismen, die traditionell Erfolg hatten, um verschiedene Strömungen aufzunehmen. Innerhalb der CDU gibt es etwa ein sehr ausgeprägtes Vereinigungswesen. Früher waren diese Vereinigungen noch sehr viel stärker. In Österreich sind sie auch heute noch außerordentlich stark in den Parteien, während der Einfluß der großen Parteizentralen hier im Laufe der Jahre doch sehr zugenommen hat. Darin sehe ich eines der Probleme der Parteien. Solche Vereinigungen sind ja von der ganzen Idee her dazu gedacht, Themen eher aufzunehmen, sie auch einmal in einem Experimentierfeld durchzudenken, um sie dann in die Partei hineinzutragen und umgedreht. Deshalb halte ich die Stärkung von Vereinigungen für eine der wesentlichen Antworten auf die Krise der Volksparteien. Zweitens ist es ein Problem, daß viele Menschen heute glauben, für all ihre Probleme sei „die Politik“ verantwortlich. Das ist einer der zentralen Irrtümer, die aufgeklärt werden müssen.
Peter Glotz: Dieser Irrtum darf aber auch nicht in der Politik selber verbreitet sein.
Ulf Fink: Ja, manchmal denken Politiker auch, sie wären in der Lage oder befugt, für alle Probleme dieser Welt Antworten zu geben.
Peter Glotz: Verantwortungsimperialismus hat das Oskar Lafontaine genannt.
Ulf Fink: Das darf nicht sein. Es muß deutlich werden, daß große Bereiche sehr zu Recht politikfern sind. Die Bürgerinitiativ- und Selbsthilfebewegung hat erkannt, daß das ledigliche Starren auf Entscheidungen im Parlament oder irgendwelchen Ministerien einfach falsch ist und in die Irre führen muß. In diesen beiden Bereichen würde ich eher Antworten sehen. Ich glaube, große Parteien haben auch in der Zukunft sehr gute Chancen.
Peter Glotz: Die Parteien sind an bestimmten Punkten relativ machtlos, weil ökonomische Mechanismen entscheiden, und zwar international, und nicht die Parteien. Man muß eben doch über eine Verfassungsdebatte nachdenken. Wenn wir nicht innerhalb der Parteien und meiner Meinung nach auch am Spielfeld der Parteien etwas ändern, dann entsteht ein immer größer werdender Stau von Unzufriedenheit gegenüber den Parteien. Daran werden die Schönhubers, Populisten aller Richtungen groß.
taz: Auf der einen Seite ist die Analyse der gegenwärtigen Schwierigkeiten der Parteien, auf der anderen Seite sind die Schlüsse, die Sie daraus ziehen. Dies ist alles diskutierenswert. Wenn man sich das reale Zeitbudget, auf die nächste Bundestagswahl bezogen, jedoch anschaut, dann gibt es doch überhaupt keine Chance einer Verwirklichung.
Peter Glotz: Einverstanden. Ich glaube nicht, daß wir mit all dem, was wir hier diskutieren, die Stimmenanteile der Republikaner bei den nächsten Bundestagswahlen senken.
taz: Hat Schönhuber nicht recht, wenn er sagt, wir werden die drittstärkste Partei?
Peter Glotz: Das weiß kein Mensch. Aber wenn Schönhuber nicht noch politisch umgebracht wird, er sich in einen großen Korruptionsfall verwickelt oder es wilde Machtkämpfe in dieser Partei gibt, wenn er also nicht so behandelt wird, wie der Baumgärtner von der Bayernpartei vor 30 Jahren behandelt wurde, dann wird Schönhuber mit deutlich über fünf Prozent in ein nationales Parlament einziehen und wird in Bayern ein zweistelliges Ergebnis erzielen. Davon gehe ich aus.
Thomas Schmid: Ich möchte noch mal zurück zu dem kommen, was Herr Fink gesagt hat. Ich fände es ja prima, wenn die Parteien das schaffen würden, was Sie vorschlagen, schnell zur Clearingstelle für gesellschaftliche Probleme zu werden. Das fänden alle nett. Ich möchte wissen, wie das durchsetzbar sein soll. Es gibt doch dafür einen klaren Hinderungsgrund, den es inzwischen auch schon bei den Grünen gibt. Jede Partei ist auch ein Versorgungsunternehmen, nicht unwesentlich für Leute, deren ganz persönliche Lebensperspektive an dieser jeweiligen Partei hängt und an fast nichts anderem in dieser Welt. Das spricht gegen eine Öffnung der Parteien, denn das hieße notwendigerweise auch Aufgabe von Pfründen. Wie soll das durchsetzbar sein, es sei denn, der Druck der Gesellschaft ist außerordentlich massiv. Ich finde es zum Beispiel bei den Grünen außerordentlich bedauerlich, daß die im Prinzip gar nicht falsche Idee irgendwelcher Elemente der Rotation wieder fallengelassen wurde.
In Sachen Demokratie ist jeder Laie Spezialist, hinzu kommt die Fachkompetenz, und die Frage ist, wie das dann organisiert wird. Um das hinzukriegen, braucht man Parteien, deren Fenster hin zur Gesellschaft sehr viel offener sein müßten, als sie es heute sind.
Peter Glotz: Einverstanden.
Thomas Schmid: Ich bin an dieser Stelle ziemlich ratlos. Ich weiß nicht, wie es durchsetzbar sein soll, weil diese Apparate eben auch Eigeninteresse entwickelt haben. In Sachen Demokratie muß sich die Gesellschaft gegen die Parteien durchsetzen.
taz: Könnte nicht durch sehr viel mehr Demokratisierung des Parlamentarismus, etwa den Ausbau der ja zum Teil schon existierenden Mechanismen, des Panaschierens und Kumulierens von Stimmen, aber auch durch die Aufhebung des Fraktionszwangs eine ganz Menge bewegt werden?
Peter Glotz: Beides halte ich für überdenkenswert, insbesondere, was das Wahlrecht betrifft. Auch die Toleranz der Parteien gegenüber Abweichungen in ihren Fraktionen müßte größer werden, wenn die Parteien wieder attraktiver werden sollen. Auf diese Weise können sie unterschiedliche Alternativen in den eigenen Parteien deutlich machen und unterschiedliche Gruppen in der Bevölkerung ansprechen.
Ulf Fink: Wenn man sich die Entwicklung unserer Parteien in der Nachkriegszeit anschaut, dann ist eines sehr auffällig: Sobald bräunliche Töne zu hören waren, gab es einen allgemeinen gesellschaftlichen Akkord dagegen. Als Konsequenz daraus haben wir im Unterschied etwa zu Frankreich keine „wirklich rechte Partei“. Die Bedingungen heute sind eigentlich nicht schlechter als nach dem Krieg. Denn nach dem Krieg gab es noch sehr viel mehr unmittelbare Mitglieder der nationalsozialistischen Partei. Die Bedingungen heute für das Zurückdrängen rechter Ideen sind eigentlich besser als damals. Man muß wieder an diesen Konsens anknüpfen, der in der Nachkriegszeit bestanden hat. Das halte ich auch nicht für unmöglich.
Peter Glotz: Es hat vorhin schon einmal jemand einen Konsens beschworen, das war Thomas Schmid. Er hat an einen ökologischen Konsens gedacht, Sie denken an einen gegen die Rechte. Und das heißt ja gegen Dregger, Hasselmann, einen großen Teil der CSU und das, was noch an außerparlamentarischer Rechter oder bei Schönhuber da ist.
Ulf Fink: Das meine ich damit natürlich nicht.
Peter Glotz: Ja, wenn sie von der Rechten reden, wer ist dann die Rechte? Ich kann ja verstehen, daß Sie an der Idee der Union festhalten. Aber diese Idee ist ja die eines Zusammenhalts, vornehm ausgedrückt, der Nationalkonservativen, der christlich-sozialen Komponente und vermutlich auch der wirtschaftlich-liberalen Komponente.
Ulf Fink: Zwischen Männern wie Dregger, Carstens, um nur einige zu nennen, und einem Schönhuber oder Frey liegen doch Welten. Die Republikaner dürfen auch nicht für sich eine „konservative Tradition“ in Anspruch nehmen.
Peter Glotz: Natürlich sind Welten zwischen dem katholischen Schönhuber auf der einen Seite und diesem protestantischen Nationalkonservatismus auf der anderen Seite. Der Unterschied zwischen Spranger und Schönhuber besteht darin, daß der Schönhuber intelligenter ist. Sonst gibt es keinen. Wenn Sie einen Konsens wollen, dafür bin ich auch, welchen wollen wir, und wen gliedern wir da aus? Man kann nicht gleichzeitig für und gegen die Position von Herrn Hupka sein.
Ulf Fink: Ich finde, es ist zum Beispiel ein bedeutsamer Unterschied, ob man sich für die Idee einer Nation einsetzt, die darauf begründet ist, daß Menschen, die sich einander zugehörig fühlen, zusammen kommen und nicht willkürlich getrennt sind. Eppler hat zu Recht in seiner Rede gesagt, daß, solange Menschen sich zusammengehörig fühlen, die Nation lebt. Und er hat noch deutlicher gesagt, wenn so viele Menschen aus der DDR den Gedanken Deutschlands nicht aufgeben wollen, weil er Hoffnungsgedanke für sie ist, dann unterscheidet sich ein solches Eintreten für die nationale Idee von einer aggressiven Deutschtümelei eines Schönhuber in Welten.
Peter Glotz: Eppler und Schönhuber trennen in der Tat Welten.
taz: Wiedervereinigungsthematik gegen Rechts, das ist doch der Konsens, den Herr Fink vorschlägt.
Peter Glotz: Mit mir gibt es diesen Konsens nicht. Ich halte die Nation für ausgelebt. Selbstverständlich unterstütze ich alle Wünsche von Menschen, die in Dresden genauso gut und genauso frei leben wollen wie in Hannover. Das muß aber nicht in einem Staat geschehen. Ich komme aus einem Land, wo es Millionen Deutsche gab, und kein Mensch will mich wiedervereinigen. Wir haben in Eger gelebt, und so verrückt ist keiner, daß er auch noch die deutsch -tschechische Grenze in Frage stellt. Das begrüße ich ja, aber ich fühle mich immer gegenüber den Dresdnern richtig benachteiligt bei diesen Debatten.
taz: Wo kommen Sie denn her?
Ulf Fink: Aus Freiberg in Sachsen. Das ist doch kein Unrecht, wenn die Menschen, die in der DDR und der Bundesrepublik leben, zueinander kommen wollen und wir das unterstützen. Unrecht wird es, wenn ich Menschen, die seit 40 Jahren in Breslau oder Marienburg oder wo auch immer leben, sage, das ist unser Gebiet und ihr müßt es wieder verlassen. Was Schönhuber in seinen Reden und bei seinen Versammlungen vertritt, hat mit dem Thema Konservatismus bis hin zu Überlegungen eines aufgeklärten nationalen Begriffes nichts gemein. Das ist ein Anti, ein Raus!, ein „Wir sind Wir“. Derjenige, der sagt, er wolle sich mit den Republikanern thematisch auseinandersetzen, der soll mir erst einmal sagen, welche eigenständigen Themen das überhaupt sind. Ich erkenne den Ökologieansatz bei den Grünen, der ist zwar in vielen Feldern überlagert, die Grünen sind oft nicht grün, das ist ja das eigentliche Problem. Ich erkenne aber keinen wirklich thematischen Ansatz bei den Republikanern.
Peter Glotz: Ich sehe ihn in einem neuen Nationalismus sowohl nach außen als auch nach innen. Wobei das innenpolitische Element stärker ausgeprägt ist. Nach außen heißt das Wiedervereinigung, Deutschland in den Grenzen von 1937. Nach innen heißt das ethnisch reine Nation als Ideal, möglichst wenig Ausländer. Eine Idee, die in Mitteleuropa schrecklich viele Verbrechen in den letzten 100 Jahren zur Folge hatte. Dieser verballhornte Herder, Ernst Moritz Arndt usw., der spielt in den Köpfen der Republikaner, aber auch in denen vieler Nationalkonservativer eine gewisse Rolle. Ich gestehe Ihnen allerdings schon zu, daß ein kultivierter Nationalkonservativer nicht in einen Topf zu werfen ist mit einem Herrn Schönhuber. Aber die Idee der ethnisch reinen Nation, die Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft, die finde ich auch bei vielen Nationalkonservativen. Es gibt vergleichbare Wurzeln. Die Ideen sind identifizierbar. Es ist nicht nur der pure Protest, der den Republikanern die Stimmen bringt.
taz: Der Nationalismus, den Sie den Republikanern unterstellen, der ist doch, zumindest was die deutsch -deutsche Problematik angeht, zum großen Teil auch nur Rhetorik. Den Republikanern geht es doch in erster Linie um „westdeutschen Nationalismus“, der kaum so zu nennen ist. Ich glaube nicht an an den wiederaufkommenden Nationalismus in der Bundesrepublik, genauso wenig, wie ich mir einen aufgeklärten Nationalismus wie Sie, Herr Fink, ihn proklamieren, vorstellen kann. Einzig die Leute in der DDR selbst sehen in der nationalen Frage noch eine Möglichkeit, eine Chance . Sie sind die einzigen, für die sie tatsächlich noch offen ist. Ich frage mich, warum sich die Union von einem nationalen Begriff nicht verabschieden kann, der immer mit der Frage der Staatlichkeit verbunden ist.
Ulf Fink: Die Frage ist, wie sich zukünftig Nation darstellt, in welcher staatlichen oder nichtstaatlichen Form. Das zu diskutieren führt jetzt zu weit. Mich interessiert eher die Frage nach einem gesellschaftlichen Leitbild. Deshalb halte ich es für wichtig, einen aufgeklärten Nationenbegriff zu haben. Eine Gesellschaft, ein Europa, wenn man Mittel- und Osteuropa dazunimmt, von über 350 Millionen Menschen kann doch kein Zusammenleben ohne Strukturierung, ohne Identitäten bedeuten. Eine solche Vision von Europa wäre doch schrecklich.
Thomas Schmid: Die Diskussion ging doch von der Frage des Konsenses gegen rechts aus. Wenn es den geben soll - es betrifft meine Fragestellung gar nicht einmal - muß doch all das als legitime Fragestellung anerkannt sein, was Sie eben, Herr Fink, als aufgeklärten Nationenbegriff bezeichnet haben. Man muß nicht damit einverstanden sein, aber darüber muß debattiert werden können. Ich sehe aber die Tendenz, daß man die CDU in dem Moment, wo sie das äußert, als revanchistisch denunziert. Es gibt in der Geschichte das Recht auf Zusammenschluß. Das ist ein Grundrecht, an das man anknüpfen soll. Offensichtlich existiert in der DDR ein Gefühl dafür.
Peter Glotz: Wir führen eine nicht ganz zureichende Diskussion über den Nationen-Begriff. Wir müßten ja dann auch fragen, was passiert mit den Deutschen in Südtirol, den Deutschen in Österreich. Ich halte den Nationalismus in der Zukunft für eine ganz große Gefahr. Was zum Beispiel in Polen an Nationalismus hochkommt, ist schrecklich. Eine bestimmte Form von Nationalismus, wie er deutlich wird zwischen Siebenbürgen und Rumänen, Bulgaren und Türken, Serben und Albanern in Kosovo'da kommen schreckliche Konflikte auf uns zu. In der Situation müssen die Deutschen, die nun einmal gelernt haben, daß ihnen eine Staatsnation offensichtlich nicht geglückt ist, nach vorne gehen, gegen solche nationalistischen Gefühle. Das ist die Zukunftsperspektive, nicht die nostalgische Zurückführung, wie sie die Polen jetzt betreiben, nachdem dieser schreckliche Marxismus-Leninismus von ihnen genommen wird.
taz: Es ist die eine Diskussion, ob die Deutschen dann die Pädagogen der multikulturellen Gesellschaft spielen können, und die zweite Diskussion ist ja, ob nicht die Republikaner da in gewissem Sinne, ob wir das wünschen oder nicht, ein Zukunftsprojekt sind, die sagen, bei allen Gefahren, die das europäische Haus schlicht auch für unseren Wohlstand mit sich bringt, verbarrikadieren wir uns wenigsten in unserem deutschen Zimmer. Das wollen wir so haben, wie es bisher war.
Peter Glotz: Gut, aber das halten wir doch für falsch. Man muß darüber reden können, aber dann muß man sich damit auseinandersetzen.
taz: Wenn das eine Prämisse für die Republikaner und ihre Existenz ist, dann fragt sich doch, wie diese Auseinandersetzung geführt werden soll?
Ulf Fink: Eppler hat in seiner Rede zu recht gesagt, daß das Nichtakzeptieren nationaler Begriffe nicht bedeutet, daß solche Konflikte nicht vorhanden wären. Sie machen sich nur in anderer Form bemerkbar. Zweitens: Ich glaube nicht, daß die Republikaner das, was wir gerade diskutieren, wirklich ansprechen.
Thomas Schmid: Man kann es mit dem verrammelten westdeutschen Zimmer ganz gut beschreiben. Ich glaube, die Republikaner könnten sich, sie sind noch gar nicht so weit, ihr Thema noch suchen. Dieses Europa, das hoffentlich nur sehr langsam zustande kommt, wird einen Haufen kultureller Verwerfungen mit sich bringen, aber auch riesige sozialpolitische Probleme, wenn es vereinheitlicht wird. Das ist vielleicht eines der großen politischen Themen der nächsten Jahre, und da könnten die Republikaner sich als Partei profilieren, die einfach nein dazu sagt und durchsetzen will, daß es so weiter geht wie bisher. Das hätte dann übrigens nichts mit deutschem Nationalismus im traditionellen Sinn zu tun, sondern ganz einfach: westdeutscher Wohlstand wird gegen den Rest der Welt - Ost wie West - verteidigt.
Ulf Fink: Die Leute erkennen doch, daß unser Wohlstand in einem erheblichen Maße auf unserem enormen Export beruht. Nehmen wir einmal an, die anderen würden sich abschotten... Wir profitieren doch am allermeisten von diesem Europa.
Peter Glotz: Eine Minderheit denkt schon anders. Es gibt in der Tat Modernisierungsängste, und ich will nicht bestreiten, daß die zu einer Zehn-Prozent-Partei zusammenzubündeln sind. Das hängt auch davon ab, wie geschickt die großen Parteien sind.
Ulf Fink: Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Ich frage mich nur, ob wir darauf richtig reagieren.
Thomas Schmid: Die Parteien können nur dann etwas ausrichten, wenn sie das Problem als ein reales Problem anerkennen. Sie erkennen es aber nicht an, wenn sie sagen, großes Europa, große Zukunft. Oder indem sie gestylte junge Leute auf Werbeplakaten abbilden und drunter steht: Wir sind Europa. Diese provokatorische Wahlkampagne, die die SPD da gegen Alte geführt hat, ist exakt das Gegenteil.
Peter Glotz: Daß der Wahlkampf der Grund war für die vielen REPs, bezweifle ich. Aber das sollten Sie bei Gelegenheit mit Anke Fuchs besprechen.
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