: Drei Jahre nach Wallraff: alles wie gehabt
Die nordhrein-westfälische Gewerbeaufsicht enthüllt skandalöse Zustände bei Leiharbeit-Firmen / Bayer, Krupp, Thyssen - die Creme der deutschen Wirtschaft poliert sich mit „Arbeitern dritter Klasse“ die Bilanz / Stundenlöhne bis 8,50 Mark - zuweilen sogar Kartoffeln ■ Aus Düsseldorf J. Nitschmann
„Zustände wie im vorigen Jahrhundert“ hat die mobile Einsatzgruppe der Gewerbeaufsicht in Nordrhein-Westfalen bei der Überprüfung von Leiharbeit-Unternehmen aufgedeckt. Wie Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Heinemann am Freitag mitteilte, sind bei zwei Drittel der insgesamt 8.000 überprüften Fremdfirmen „zum Teil skandalöse Verstöße“ gegen die Arbeitsschutz- und Sozialbestimmungen festgestellt worden. Heinemanns Fazit: „Im Bereich der Leiharbeit und des Fremdfirmeneinsatzes sind unzumutbare und gefährliche Arbeitsbedingungen beinahe die Regel.“
Fast 38 Prozent der kontrollierten Fremdunternehmen hätten gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen; bei jeweils 19 Prozent der Unternehmen wurden Mängel bei der Arbeitshygiene und bei der persönlichen Schutzausrüstung der Arbeitnehmer festgestellt. Rund 22 Prozent der Leiharbeit-Unternehmen hielten Arbeitszeitvorschriften nicht ein, und bei rund 20 Prozent wurde „unzulässige Arbeitnehmerüberlassung“ festgestellt.
Heinemann-Sprecher Oettler sagte gegenüber der taz, drei Jahre nach Erscheinen des spektakulären Wallraff-Bestsellers Ganz unten seien die für ihre „skandalösen Methoden“ bekannten Fremdfirmen „sicherlich nicht weniger geworden“. Es sei „ein unerträglicher Zustand“, daß sich die Leiharbeit -Unternehmen vor allem auf den Betriebsgeländen jener Firmen tummelten, „die zur Creme der deutschen Wirtschaft zählen“. Als Beispiele nannte Oettler die Firmen Bayer, Krupp und Thyssen. Damit nähmen diese Firmen bewußt in Kauf, „Arbeitnehmer dritter Klase zu beschäftigen, die über keinerlei Arbeitsschutz verfügen“.
Nach den Erkenntnissen des NRW-Arbeitsministeriums bezahlen die Fremdfirmen Stundenlöhne zwischen fünf und 8,50 Mark. Im Ostwestfälischen habe ein Leiharbeit-Unternehmer die Löhne sogar mit Kartoffeln und anderen Naturalien abgegolten. „Es gibt in dieser Szene unglaublich skurrile Horrorgeschichten“, sagte Oettler. In einem Fall trafen die Kontrolleure einen jungen Türken ohne Atemschutz und Schutzanzug „mitten im Farbnebel“ beim Lackieren von Blechen an. „Sein Gesicht war so grün, wie die Bleche, die er behandelte“, berichtete ein Mitarbeiter der Gewerbeaufsicht. Zwölf Stunden später sei der junge Türke bei einer Nachkontrolle erneut an der Spritzpistole und wieder ohne Schutzmaßnahmen im Farbnebel angetroffen worden, während sein Kollege zu diesem Zeitpunkt bereits mit Vergiftungserscheinungen im Krankenhaus gelegen habe. In einem anderen Leiharbeit-Unternehmen wurde ein illegal tätiger Ausländer angetroffen, der seit mehr als 20 Stunden im Einsatz war. Drei Arbeitnehmer einer anderen Fremdfirma waren bei einem Großbetrieb 32 Stunden ununterbrochen mit Estrich-Verlegearbeiten beschäftigt.
Laut Arbeitsminister Heinemann werden Arbeitnehmer von ihren Verleihern häufig nach der ersten Schicht „noch am gleichen Tag zu einer zweiten Schicht in ein anderes Unternehmen transportiert“. Heinemann sprach von einer „undurchsichtigen Grauzone“, die sich zwischen legaler und illegaler Leiharbeit gebildet habe. In diesem Gewerbe seien „Gesetzesverstöße an der Tagesordnung und die Arbeitnehmer werden von skrupellosen Geschäftemachern ausgebeutet.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen