: Das Phytoplankton schlägt zurück
■ Abwassergemästete Algen tummeln sich in der Adria, Tangteppiche treiben auf der Nordsee
Touristen und Kurdirektoren schimpfen heuer auf die Algen. Zu Unrecht. Denn die munter sich vermehrenden Phytoplankten könnten dem Menschen als Indikator für den von ihm verschuldeten Zustand der Küstengewässer von Nutzen sein. Doch die Warnung der Einzeller scheint ungehört zu bleiben: Auch ein Jahr nach der Diskussion um Algenpest und Robbensterben fließen stickstoffhaltige Abwässer massiv in die Nordsee. Auch wenn die Schreckensmeldungen jetzt von der Adria kommen, haben die friesischen Kurdirektoren keinen Grund zum Jubel. Auf den Leeseiten der Inseln Amrum und Föhr blühen Tangteppiche, und wann die Algen sich wieder zurückmelden, ist nur eine Frage der Zeit. Am Sonntag finden auf Sylt, Amrum und Föhr Protestversanstaltungen statt.
„Das ganze Vergnügen“, ruft Carmine di Lello vom Cockpit an seinem Mikro vorbei, „werdet ihr erst morgen haben, wenn die Wolken weg sind und wir auf 3.000 Meter gehen können.“ Tatsächlich macht das böige Wetter mit einer Sichthöhe von weniger als 250 Metern die Beobachtung des Meeres zwischen Cattolica und Rimini fast unmöglich: So durchgeschüttelt vermag man nur schwere, - wie üblich bei solchem Sturm sandbraune See zu erkennen; schwer zu sagen, ob da noch der Algenteppich herumwabert, der die Zone seit drei Wochen in schwere Existenznöte gebracht hat.
Die Menschen unten am Boden betrachten das unsommerliche Wetter eher mit Freude: „Wirst sehen“, rief uns Bernardo La Cecla von der sonst in dieser Zeit von Ausländerkarossen überfüllten Garage nach und kehrte zum vierten Mal ein paar imaginäre Späne aus der leeren Halle, „der Wind bläst das Zeug weg und schon sind die Touristen wieder da.“
Da steht dieses Jahr wohl nur die Hoffnung Pate und die Nostalgie früherer Jahre, wo nach vorübergehender Algensichtung das „tutto esaurito“ schnell wieder die gewohnte Überfüllung der italienischen Ostküste angezeigt hat. Doch irgendwie ist diesmal alles anders: Die Algen haben offenbar aufgehört, ihr Erscheinen in saisonal günstige Perioden zu legen. Mal kamen sie erst nach Abschluß der Saison, mal, wie voriges Jahr, so knapp vor dem sommerlichen Exodus zu Ferragosto (die Woche um den 15.August), daß bei Bekanntwerden schon Millionen adriahungriger Nomaden auf den Straßen und daher nicht mehr zu bremsen waren; mal verflüchtigte sich der eklige Teppich, noch bevor das Fernsehen schaurige Bilder drehen konnte. Doch diesmal will und will kein gütiges Schicksal intervenieren: Die Pest ist da, und sie bleibt auch da.
Wir können es am Tag nach dem Unwetter schnell wieder feststellen. Nach einer ruhigen Nacht, nun unter blauem Himmel, zieht sich der Teppich nicht nur, wie vornehm in den offiziellen Verlautbarungen ausgedrückt, „einige Kilometer“ hin - er bedeckt schlichtweg mit geringen Ausnahmen den gesamten Adria-Sack. Bei der ersten Flugschleife, Richtung Südosten, läßt sich die Brühe weit über Pesaro und Ancona hinaus erkennen, lediglich Apulien nach dem Gargano-Sporn ist ausgespart - die gewundenen Ränder lassen erkennen, daß dies den vorhandenen Strömungen zu verdanken ist.
Dann Richtung Nordwesten: Riccione, Rimini, Ravenna, Chioggia - wohin man blickt, bis hinüber nach Jugoslawien, alles schillert im ekligen Braun, das nun von Stunde zu Stunde zunehmend einen leichten Rotschimmer bekommt Zeichen, daß die Warnung der Grünen Abgeordneten Anna Donati schon aus dem Januar dieses Jahres fast minuziös eintrifft: „Zuerst kommen die Makro-Algen: Die kann man noch herausbaggern. Dann kommen die Mikroalgen, die beim Sterben eine gallertartige Masse bilden, die dann bei Wassererwärmung an die Oberfläche steigt; schließlich die roten Algen, die miteinander verbacken und, einmal an der Oberfläche, den Sauerstoffaustausch total blockieren: Dann stirbt die gesamte Fauna und Flora darunter.“ Damals wurde die Volksvertreterin als „Katastrophen-Anna“ verspottet.
An den Stränden und in Küstennähe sind die „Sofortmaßnahmen“ zu sehen, für die der Umweltminister umgerechnet an die 70 Millionen DM bereitgestellt hat: Traktoren ziehen mit Greifklauen meterhohe grüne Algenberge vom Strand, kleinere Schiffe haben heckseitig eine Art Rolltreppe heruntergelassen und schaufeln die Wasseroberfläche von Grünzeug frei; weiter draußen schippern unförmige Spezialfahrzeuge herum, die nach den Seiten eine Art Quirl ausfahren und damit den Gallertteppich der Mikroalgen durcheinanderrühren. Mit mäßigem Erfolg: Allenfalls so um die hundert Meter um das Schiff herum ist das Wasser etwas klarer, danach färbt sich die Brühe wieder
-mit deutlicher Rot-Zunahme; offenbar beschleunigt die Verquirlung das Auftauchen der Rot-Algen.
Dann überfliegen wir Venedig - ein besonderes Meisterstück konzertierter Zerstörung: Weil es noch nicht genügt, daß die Lagunen dort schon seit fast zwei Jahrzehnten klinisch tot sind, Hunderttausende von Touristen täglich die auf wenige Hektar zusammengedrängten Kunstschätze abtrampeln und die Bauwerke rapide verfallen, mußte die Stadt vor zwei Tagen auch noch ein gigantisches Konzert der Pink Floyd aushalten, anläßlich dessen mehr als eine Viertelmillion Besucher ganze Gebirge von Abfall nicht nur auf den Plätzen hinterlassen, sondern auch auf die Lagune gekippt haben - noch heute sieht man kaum Wasser, dafür aber Tausende von Plastiktüten und Papierfetzen - Humanalgen sozusagen.
Rückflug über das Po-Delta: „Wer hätte das geglaubt“, brummt Gianfranco, dem der taz-Reporter die Gastfreundschaft in der Fernseh-Cessna verdankt, „daß der schmutzigste Fluß Europas mal regelrecht sauber aussieht gegen das Meer, in das er hineinfließt!“ Tatsächlich schwemmt der Fluß, der wie kein anderes Gewässer die algenförderlichen Nährstoffe zuführt, einen mehrere hundert Meter breiten Keil in das Algen-Gallert - das satte Braun des Po-Wassers sieht fast appetitlich aus gegen das schillernde Gelbrotgrün der Algen.
Protest - aber gegen wen?
Zurück vom Flug, treffen wir wieder Bernardo in seiner Garage. Er hat in den letzten Stunden, nach einem Blick ins Fernrohr hinunter zum Meer und der Meldung, daß Algen nun auch auf der anderen Stiefelseite, in der Bucht von Genua, gesichtet wurden, seine letzten Illusionen verloren: Gut zwei Dutzend Freunde sitzen mittlerweile in seiner Garage herum und malen Transparente; denn: „Morgen machen wir Ernst“. Die immer wieder „aus taktischen Gründen - man gibt ja damit zu, wie weit es gekommen ist“ - verschobene Demo gegen die Regierung wird nun stattfinden.
Ganz genau wissen die Protestler aber hier auch nicht, gegen was und für was sie ihre Sprüche formulieren sollen. „Weniger Raketen, mehr Kläranlagen“, schreibt einer; da reißt ihm ein anderer den Pinsel weg: „Hast nicht den 'Corriere‘ gelesen? Die Pest kommt gerade von den Chemikalien, die sie in den Kläranlagen benutzen.“ Das behauptet jedenfalls einer der „Experten“, die tagtäglich neue Verwirrmeldungen lancieren: Die These würde zwar erklären, warum auch an kläranlagenübersäten Zonen wie Rimini und Cattolica Algen wachsen, nicht aber, warum sie dann auch dort auftreten, wo es nur wenige Reinigungsanlagen gibt, wie etwa bei Venedig oder an der jugoslawischen Küste.
Eher schüchtern läßt sich Gerardo Delmonte hören, Sprecher der Einzelhändler: „Und wenn die Grünen doch recht haben und alles von den Düngemitteln und Pestiziden kommt?“ Ja, was dann? Die Runde schweigt betreten, einer malt versonnen eine lachende Sonne auf sein Transparent - Symbol der italienischen Grünen: Noch vor zwei Monaten gab es da Zoff. Weil die Grünen beim Stimmensammeln zur Einleitung des Referendums für ein Verbot von Pestiziden auch die hemmungslose Bauspekulation der Tourismus-Profiteure anprangerten, wurden ihnen hier reihenweise Unterschriftstische umgeworfen. Bernardo bringt die Sache mit einem schweren Seufzer auf den Punkt: „Schöne Scheiße, daß jetzt ausgerechnet die unsere letzte Hoffnung sind, die wir bisher immer hinausgeschmissen haben.“ Also: „Gleich morgen gehen wir geschlossen hin und unterschreiben fürs Referendum.“
Da kommt er freilich zu spät - die Sammlung wurde, erfolgreich auch ohne seine Unterschrift, vor einem Monat abgeschlossen. Und für die Annahme des Antrags im Herbst sehen Meinungsforscher eine „Mehrheit von mindestens zwei Dritteln aller Stimmen“ voraus. Den Algen sei Dank.
Werner Raith
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