piwik no script img

Sowjetische Bergleute wollen Garantien

■ Überraschendes Fernsehinterview und erneuter dramatischer Appell Gorbatschows / Auch Jelzin fordert die Kumpel zur Arbeit auf / Streiks bröckeln ab, ein Ende ist jedoch nicht abzusehen / Jetzt Verhandlungen beim Obersten Sowjet / Mißtrauen der Kumpel groß

Berlin (afp/ap/dpa/taz) - In einem überraschenden Interview, für das das sowjetische Fernsehen am Sonntag nachmittag sein Programm geändert hat, kündigte Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow an, der Oberste Sowjet werde sich ab Montag mit den Forderungen der Bergleute befassen und die Antworten beraten. Gleichzeitig begrüßte er, daß der Streik anscheinend nun zu Ende ginge: Die Lage habe sich „kräftig zum Besseren gewendet“. Er lobte die „gute, konstruktive und realistische Atmosphäre“ bei den Verhandlungen mit den Streikkomitees. Er gestand zum ersten Mal ein, daß in allen Kohlerevieren des Landes gestreikt worden sei. Die Bergleute fordern jetzt Garantien vom Obersten Sowjet, daß die ihnen versprochenen Zugeständnisse tatsächlich eingelöst werden. Regierung und Verhandlungskomissionen trauen sie nicht.

Dem vorausgegangen war ein dramatischer Appell am Samstag, den Ministerpräsident Ryschkow und Gorbatschow telegraphisch an den Sonderbeauftragten aus Moskau, Lew Riabew, gerichtet hatten. Darin hieß es: „Wir beauftragen Sie hiermit, die Bergleute zu informieren, daß alle in der Regierungskommission behandelten Fragen unverzüglich vom Obersten Sowjet und vom Ministerrat beraten werden, unter Einbeziehung von Vertretern der Bergarbeiter, und daß Entscheidungen getroffen werden.“ Darüber hinaus forderten sie die Arbeiter auf, wieder an die Arbeit zurückzukehren, und bezifferten zum ersten Mal den Gesamtschaden, der der sowjetischen Wirtschaft durch den Ausstand entsanden ist mit 70 Milliarden Rubel.

Am Freitag abend hatte sich sogar der radikale Moskauer Reformer Boris Jelzin über das Fernsehen an die Streikenden gerichtet. Jelzin, der wegen seiner radikalen Forderungen nach Beschleunigung des Umgestaltungsprozesses im November '87 von Gorbatschow als Moskauer Parteichef geschaßt worden war, appellierte in seiner Rede ebenfalls an das „Verantwortungsgefühl“ der Arbeiter. Sie sollten in die Gruben zurückkehren, auch wenn die zentralen und örtlichen Behörden des Landes zum Großteil für die derzeitigen Konflikte verantwortlichen seien. Am Samsatg hatten Streikkomitees der 80.0000 Kumpel im ukrainischen Donez -Gebiet mit einer Regierungskommission ein Abkommen geschlossen, in dem fast alle Wünsche der Bergleute berücksichtigt wurden (siehe Kasten Seite 2). Das Abkommen wurde aber von der Basis der Kumpel als ungenügend abgelehnt. Fortsetzung auf Seite 2

Siehe auch Seite 6

FORTSETZUNGEN VON SEITE 1

Nach Angaben der Gewerkschaftszeitung 'Trud‘ befanden sich am Wochenende 500.000 Bergarbeiter im Ausstand. Das ist die Hälfte aller in dieser Branche Beschäftigten. In den bestreikten Minen drohten Einstürze und Wassereinbrüche.

Im westsibirischen Kuznez-Becken, wo sich der Streik vor knapp zwei Wochen entzündet hatte, ist der Ausstand laut Sowjet-Fernsehen lediglich vorläufig „ausgesetzt“, obwohl den Kumpels zugesichert worden war, die Streikkomitees könnten zur Überwachung der Maßnahmen weiter bestehen. Im Karaganda-Becken, im Norden Kasachstans, wo noch Sonntag früh alle 26 Gruben im Ausstand waren, soll die Arbeit

mittlerweile wiederaufgenommen worden sein. Wegen der hohen Umweltbelastung der Region um Semipalatinsk verlangten die Bergleute eine sofortige Einstellung der Atomtests und der Verschrottung der Mittelstreckenraketen. In der Zeche Makajewka in der südlichen Ukraine unterzeichnete Kohleminister Schtschadow am Samstag ebenfalls ein Abkommen mit dem regionalen Streikkomitee. Die Belegschaft wollte vor einer Arbeitsaufnahme aber die Entscheidung der Kumpels in Donez abwarten, der nächsten Station der Schlichtungsreise des Kohleministers. Auch aus dem nordsibirischen Workuta am Polarkreis und aus Tscherwonograd in der Westukraine werden Streiks gemeldet. Die konservativen Hardliner in der Partei werden, wie sich vergangene Woche bereits zeigte, jede Zu

spitzung der Lage für ihre Interessen zu nutzen wissen.

Khd

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen