: Kamelforschung
■ Versuche über den deutschen Nationalcharakter
Bernd-Erich Wöhrle
Was wissen wir über Kamele? Wenig. Ein internationales Forschungsprojekt soll Abhilfe schaffen. Ein Engländer, ein Franzose, ein Deutscher erhalten einen Forschungsauftrag. Der Engländer besorgt sich einen Tropenhelm, ein Zelt, einige Kilogramm Tee, startet eine Expedition in die Wüste, verbringt dortselbst vier Jahre und kehrt anschließend mit einer mehrere Zentner schweren Lose-Blatt-Sammlung empirisch gewonnener Daten in die Heimat zurück.
Der Franzose hingegen besucht den Zoologischen Garten, piekst das Kamel - die starken Gitter des Geheges ermutigen ihn dazu - unsanft mit der Spazierstockspitze, plaudert angeregt mit dem Wärter des Kamels, kommt auf einen Sprung in die Feuilletonredaktion und schreibt einen glänzenden Essay. Der Deutsche, der sowohl die begriffslose Datenhuberei des Engländers wie auch die oberflächliche Frivolität des Franzosen gründlich verachtet, schließt sich in seine Studierstube ein und schreibt dort ein mehrbändiges Grundlagenwerk, dessen die Titel die öffentlichkeit ergriffen zur Kenntnis nimmt: „Die Idee des Kamels, gewonnen aus dem Begriff des Selbst“.
Der Witz dieser Geschichte läßt leicht vergessen, daß sie durchaus ernsthaft behauptet, es gäbe so etwas wie einen Nationalcharakter. Auch daß sie ihren Höhepunkt in der Beschreibung des deutschen Nationalcharakters findet ist kein Zufall: Ein Franzose hat sie erfunden. Der deutsche Forscher ist freilich ein arg angestaubtes Klischee von gestern: eine Art Hegel, der in Fausts Studierzimmer sitzt. Aber Vorsicht. Madame de Staels raffinierte, weil ohne Zeitkolorit auskommende Bemerkung, der Deutsche erkenne ein Faktum nur dann an, wenn er eine Theorie dazu habe, könnte das Klischee von gestern rasch verwandeln: in einen immer noch recht formidablen neudeutschen Fundamentalisten von heute.
Ach ja. So könnte Nationalcharakterforschung sein: kluge Bemerkungen von Reisenden, denen die eigene, wie die fremde Kultur hilft, die jeweiligen Besonderheiten in einem mitunter boshaften, nie jedoch abwertenden Licht zu sehen. Madame de Staels De l'Allemagne und Heinrich Heines Reisebilder sind darin unübertroffene Vorbilder. Beiden gemeinsam ist auch jene ironische Form der Darstellung, die jede verallgemeinerte Aussage, jedes Klischee, mit einem „So sind sie“ und „So sind sie nicht“ in der Schwebe läßt. Madame de Stael und Heinrich Heine sind Ausnahmen. Nationalcharakterstudien: das waren und sind Deckbilder für Voreingenommenheit, Fremdenhaß, schlimmer noch: für nationale Selbstbeweihräucherung, völkischen Erwähltheitsanspruch, Rassenwahn, Militarismus usw.
Ein Strickmuster, das typisch ist für viele Nationalcharakteraussagen, lieferten jene deutschen Englandreisenden des 18.Jahrhunderts, die meinten, der englische Nationalcharakter habe einen Hang zur Schwermut und - damit verbunden - zum Selbstmord. Sie übersahen dabei schlicht die Pressezensur im eigenen Lande, die keine Selbstmordmeldungen zuließ. Die von den deutschen Reisenden vermutete unterschiedliche nationalcharaktertypische Neigung zum Selbstmord war das Produkt einer Mesalliance zwischen deutscher Pressezensur und englischer Pressefreiheit. Das Terrain also ist tückisch. Selbst gestandene Aufklärer entlarven sich hier: „Man spricht... von begabten Negern, doch wird er wahrscheinlich für sehr geringe Leistungen bewundert, wie ein Papagei, der einige Worte deutlich spricht.“ David Hume in Of National Characters. Den deutschen Nationalcharakter zu beschreiben war denn auch die Herzensangelegenheit wilhelminischer Patrioten und nationalsozialistischer Rassenkundler. Nach 1945 reduzierte sich der deutsche Nationalcharakter auf ein paar Umfrageergebnisse: Sie seien fleißig, attestierten sich die Deutschen; sie sind es, bestätigten die Nicht-Deutschen. Deutsche Politologen, Soziologen gaben sich auf die Frage, wie denn der deutsche Nationalcharakter heutzutage aussehe, spröde bis zugeknöpft. Es gäbe keinen Nationalcharakter, es gäbe nur noch Rollen, dozierte Ralf Dahrendorf. Jürgen Habermas stellte erst einmal eine komplizierte Gegenfrage: „Können komplexe Gesellschaften Identitäten ausbilden?“ Antwort: Ja. Man nehme den Weg vom Verfassungspatrioten zum Weltbürger - per aspera ad astra. Alles richtig. Nur: irgendwie unbefriedigend. Zumindest für Frau Noelle-Neumann, die in ihrem unlängst erschienenen Buch Die verletzte Nation monierte, die Deutschen würden mit ihrem Nationalgefühl allein gelassen werden, weil weder Politologie, Soziologie noch Theologie sich um den deutschen Nationalcharakter scheren würden. Sie vergaß allerdings hinzuzufügen, daß diese Wissenschaften vor 1945 um so mehr das deutsche Nationalgefühl zu hätscheln wußten. Aber es gibt frohe Kunde zu melden. Frau Noelle-Neumann und die Deutschen werden mit ihrem Nationalgefühl nicht länger mehr allein gelassen. Es gibt sie wieder: Studien zum deutschen Volkscharakter. Angelsachsen schicken sich an, sich um das deutsche Wesen verdient zu machen. New Zealand Romantic
The Divided Mind: A Portrait of Modern German Culture. Der Titel dieses Buches klingt vielversprechend, vor allem wenn man erfährt, daß der Autor ein Portrait des deutschen Nationalcharakters zeichnen möchte und dazu ein Neuseeländer ist: Deutschland antipodisch betrachtet, welche Aufschlüsse könnten sich da auftun. Nichts dergleichen. Statt dessen beeilt sich der Autor, jene These Thomas Manns zu wiederholen, wonach Deutschlands Bestes durch Teufelslist in Deutschlands Bösestes umgeschlagen sei. Der Autor startet denn auch zu einer Tour de force durch 300 Jahre Kulturgeschichte und demonstriert ein erstaunliches Zitatwissen, um zu beweisen: Die deutsche Seele ist beides gleichzeitig - mal „Kindergarten“ und „Gemütlichkeit“, mal „Blitzkrieg“ und „Endlösung“. Diese vier Wörter seien zwar eine Abbreviatur des „deutschen Wesens“, dennoch seien sie aus gutem Grund unübersetzt, ein Teil der angelsächsischen Sprachwelt geworden und mehr als nur Klischees. Bismarcks „Blut und Eisen„-Politik - später Hitlers Eroberungspolitik seien Reversbilder der „Waldeinsamkeit“ eines Tieck, der „Hymnen an die Nacht“ eines Novalis; Welteroberung wie Weltrückzug seien die gegensätzlichen Ausdrucksformen eines „faustischen Strebens“ zum Maßlosen und Absurden. Der „Furor teutonicus“ gebe sich dadurch zu erkennen, daß er zwischen Extremen hin- und herschwanke und jedesmal alle Brücken hinter sich abbreche. Schließlich sei „deutsch“ nicht von ungefähr synonym damit geworden, eine Sacher ihrer selbst wegen, das heißt rücksichtslos zu tun.
Der Autor hat sich damit auf ein Bild festgelegt - mit fatalen Folgen. Seine Absicht, ein Portrait des deutschen Nationalcharakters zu zeichnen, verkehrt sich nämlich mehr und mehr in ein Prokrustesbett, dem alles Unisono ist: Goethe und Goebbels, Hegel und Hitler. Kultur- und Terrorgeschichte werden bedenkenlos in eins gesetzt. Ein Beispiel: „Kraft ist die Moral von Menschen, die sich vor anderen auszeichnen und sie ist auch die meinige.“ Der hier so spreche, sei keineswegs Hitler, erklärt Peter Russell seinen Lesern, sondern - Beethoven. Was soll das? Will der Autor eine Art Geistesverwandtschaft zwischen Beethoven und Hitler konstruieren? Das von ihm gewählte Zwangskorsett „The Divided Mind“ könnte ihn dazu verführen. Und so passiert es auch. Er kommt immer wieder auf jene SS-Schergen zu sprechen, die tagsüber Juden umbrachten und nachts Mozart, Schumann und Beethoven hörten oder spielten. Das „The Divided Mind„-Muster zwingt ihn nun, diese SS-Schergen zu mordenden Musensöhnen zu stilisieren, denen der Fluch der deutschen Seele - zwischen Genialität und Bestialität hin und herschwanken zu müssen - zum individuell zu tragenden Schicksal wurde.
Was der Autor Peter Russell im Jahre 1988 unter der Rubrik „deutscher Nationalcharakter“ anbietet, das ist wieder jenes dumme und gefährliche Klischee vom ach so dämonischen und gleichzeitig so genialischen deutschen Wesen. Damit ist verbunden - und dies ist das Schlimmste - eine kulturgeschichtliche Aufwertung der Nazi-Zeit. Hätte der Autor weniger Thomas Mann und mehr Ernst Bloch gelesen, wäre er sicherlich auf jene Rede gestoßen, in der Bloch seine amerikanischen Zuhörer beschwört, die Brüllerei Hitlers bitte nicht für deutschen Expressionismus zu halten. Dem Autor selbst und dem Leser wäre wahrscheinlich viel erspart geblieben. Ka-Pi-Fu
War die Studie des Neuseeländers sehr weit angelegt, so kann man dies von der folgenden Studie gewiß nicht sagen. Im Gegenteil: eine gewisse Engführung ist unverkennbar. Der Buchtitel verrät es schon: Life Is Like A Chicken Coop Ladder. Der fehlende Nachsatz wird im Buchinnern nachgeliefert: „short and shitty“. „A Portrait of German Culture through Folklore“ heißt der Untertitel. Jetzt kommt's raus: Der Autor ist Skatologe. Für ihn hat der „German Mind“ vor allem eine Obsession: den Anus. Diese Obsession reicht von Salzburg bis Königsberg. Mozarts Brief an die Mutter: „Sie zu embrassiren und dero Händ zu küssen/Doch werd‘ ich schon vorhero haben in die Hosen geschissen“ ergänzt in der Tat trefflichst Kants Bemerkung: „Wenn ein hypochondrischer Wind in den Eingeweiden tobt, so kommts drauf an welche Richtung er nimmt, geht er abwärts so wird daraus ein Furz, steigt er aber aufwärts, so ists eine Erscheinung oder eine heilige Eingebung.“ Aber nicht nur die erlauchtesten Geister Deutschlands sorgen sich um Teile des menschlichen Verdauungsapparates. Diese deutsche Obsession weiß sich auch mit sich selber zu beschäftigen: als wissenschaftliche Veröffentlichung. Skatologen, das sind meistens Deutsche: Grundlagen der Skatologie von Hugo Luedecke, Das Gesäß im Völkergedanken. Ein Beitrag zur Glutalerotik von Jean Wegeli; Non Olet oder die heiteren Tischgespräche des Collofino über den Orbis Cacatus von Joseph Feinhals; Menschliche Kunst von Dieter Jürgen Rollfinke; „Ka-Pi-Fu und andere verschämte Dinge von Franz Maria Feldhaus usw.
Summa summarum: ein ansehnlicher deutscher Haufen. Der Autor Alan Dundes scheut sich auch nicht, ans Eingemachte zu gehen: Die deutschen Nationaltugenden Ordentlichkeit und Sauberkeit seien nichts weiter als Umkehrungen des urdeutschen Drangs nach Fäkalischem. Und er zitiert: „Wer hier will nach der Ordnung leben,/der scheiß ins Loch und nicht daneben“, oder: „Meine Herren und Damen/machen Sie nicht auf den Rahmen/machen Sie in die Mitte/das ist deutsche Sitte.“
Der Amerikaner Alan Dundes, der hier so gute Ansätze zur Lösung der deutschen Nationalcharakterfrage zeigt, versteigt sich leider mehr und mehr in Kruditäten, die alles zunichte machen: Die deutsche Innerlichkeit sei eine Art Reflex des deutschen Wickelkindes darauf, eng bandagiert und vollgeschissen in seinem Bettchen liegen zu müssen. Im Original - sonst glaubt es niemand - „An infant tightly bound has little opportunity for extensive interaction with the external world and cannot do much else than turn inward.“ Den Einwand, dies sei doch arg konstruiert, wischt der Autor beiseite: der urdeutsche Spruch „Das Leben ist wie ein Kinderhemd: kurz und beschissen“ (siehe auch Titel des Buches) halte diese schmachvolle Erfahrung des deutschen Wickelkindes fest. Außerdem sage man in Deutschland häufig, „jemand sei falsch gewickelt“. Punktum.
Diese „beschissene Lage“ des deutschen Wickelkindes habe auch die Hitlersche Eroberungspolitik mitgetragen, die ja nicht von ungefähr unter dem Stichwort „mehr Lebensraum“ gestanden habe. Im Original: „The important twentieth -century German notion of Lebensraum (im Original deutsch Anm. d. Autors) may conceivably go back to the painful discomfort of severe swaddling techniques“. Es ist nicht zu fassen. Da zeichnet im Jahre 1984 ein gebildeter Amerikaner folgendes Deutschlandbild: Deutsche, das sind Wickelkinder, die sich zu problematischen Naturen auswachsen, bei denen thematisch bildhaft gesprochen - Tag und Nacht die „Kacke am Dampfen“ ist und die daher sowohl „innerlich“ wie auch expansionslüstern seien. Wer seiner Phantasie derart „freien Lauf“ läßt, muß sich fragen lassen, ob er selbst falsch gewickelt worden sei. Festbankett
Nationalcharakterstudien gehören einfach wieder in die Hände reisender Literaten, die allerdings über die Urteils- und Schreibkultur einer Madame de Stael verfügen müßten. Und so sehnt man sich nach soviel angelsächsischen Grobheiten, die sich auch noch für das „deutsche Wesen“ halten, zurück nach ihren boshaften Bemerkungen nach ihrem, wie Heinrich Heine es nannte, „Feuerwerk von Geistesraketen und brillanten Torheiten“. Wäre sie Zeugin gewesen, sie hätte sicherlich ihrem Deutschlandbuch jene Szene hinzugefügt, in der sich der Furor teutonicus selbst portraitierte: Es geschah zu Jena. Der deutsche Philosoph Hegel eröffnete dortselbst ein Festbankett. Er tat es mit den Worten: „Alles ist zum Verzehr bestimmt. So wollen wir also Schicksal sein.“ So ist es. Dem Deutschen genügt es nicht, ein Kamel nur zu studieren.
Peter Russell: „The Divided Mind - A Portrait of Modern German Culture“, Verlag Die Blaue Eule, Essen; Victoria University, Wellington; 1988. 35 NZ-Dollar.
Alan Dundes: „Life Is Like a Chicken Coop Ladder - A Portrait of German Culture Through Folklore“, Verlag Columbia University Press, New York 1984. 10,95 US-Dollar.
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