: Giftbord voraus
Die (Nicht-) Entsorgung der 4.000 Fässer Epichlorhydrin ■ K O M M E N T A R
Die Menschen werden immer schlauer. Unfreiwillig. Zumindest wer in Schleswig-Holstein lebt, hat im heißen Sommer 1989 dazugelernt. Dort wurde der Wortschatz um die Chemikalie Epichlorhydrin erweitert. Inzwischen haben wir gelernt, daß dieses Teufelszeug explosiv, krebserzeugend, erbgutverändernd, stark ätzend ist und chloroformähnlich riecht, und wir wissen, daß es in geringsten Dosen Augen, Schleimhäute, Lungen, Leber und Nieren ruiniert und unsere Atmung lähmt. Was wir noch nicht wissen, ist, warum man 4.000 Fässer dieses Supergiftes auf einem Schiff rumpelkammermäßig wie sauren Sprudel unter Deck stapelt, daß es nach dem ersten strengen Seegang „wie auf einem Schlachtfeld“ (Feuerwehr Hamburg) aussieht. Und wir wissen nicht, warum man die für die Ladung verantwortlichen Gangster der US-Firma Dow Chemical nicht längst eingesperrt und bei Wasser, Brot und Epichlorhydrin in Sing-Sing schmachten läßt.
Schlappe eine Million Liter dieses Stoffes hat die „Oostzee“ an Bord, jenes „Giftschiff“, das seit einer Woche durch alle Nachrichtensendungen geistert und von Gasmaskenmännern irgendwie - entsorgt werden soll. Wie diese Entsorgung tatsächlich vonstatten gehen soll, weiß bis zur Stunde niemand. Mehrmals täglich werden die Pläne geändert, der Krisenstab tagt pausenlos und schiebt das Giftschiff am grünen Tisch hin und her. Und während sich die Beteiligten noch darüber streiten, ob überhaupt von einem Krisenstab geredet werden darf oder nicht viel neutraler von einem Einsatzstab, wird bei dem hektischen Gefahren-Management nur eines deutlich: die Unbeherrschbarkeit dieses Unfalls und die Hilflosigkeit der Akteure, denen das Gift bis zum Hals steht.
In der allgemeinen Hilf- und Konzeptlosigkeit wird täglich aufs Neue ein Nachrichtensalat produziert, bei dem kein Mensch mehr durchblickt. Wie viele Fässer sind überhaupt leckgeschlagen? Selbst diese Grundfrage der Schadensanalyse kann bis heute niemand beantworten. Nachdem anfangs nur von einem defekten Faß die Rede war, erleben wir auch diesmal eine wundersame Fässervermehrung. Inzwischen ist man bei 300 beschädigten Fässern angekommen, aber nicht alles, was beschädigt ist, leckt auch, und so weiß niemand nichts Genaues nicht.
Es beruhigt uns alle sehr, daß „mit Hochdruck“ und „rund um die Uhr“ an einem Entsorgungskonzept gearbeitet wird. Aberwitzig ist nur: Wenn das Konzept fertig ist, kann der Reeder immer noch „nein“ sagen, weil ihm das alles zu teuer ist. Inzwischen wird entlüftet. Dabei ist noch unklar, ob die nachsickernde Giftbrühe den Erfolg der Lüftungsventilatoren nicht spielend wieder wett macht. Klar ist nur, daß man - auch mit Schutzanzügen und Atemgerät niemand in den Schiffsbauch reinlassen kann.
Interessant an dieser Geschichte ist die Rolle von Greenpeace. Daß die Umweltschützer zweimal mit in den offiziellen Krisenstab gebeten wurden, daß in den Nachrichtensendungen ihr Statement längst mehr Gewicht hat als die offiziellen Verlautbarungen, das sind sichere Indizien für die allmähliche Kompetenzverschiebung in Sachen Umwelt. Durch die selbstverschuldete Unglaubwürdigkeit der amtlichen Umweltschützer und den gleichzeitigen Seriositätsgewinn der „Panikmacher“ finden hier Positionsverschiebungen statt, die gerade bei solch akuten Krisen durchschlagen. Vor allem bei den Medien: Jede Wette, daß Greenpeace in Sachen Oostzee doppelt so viele Anrufe erhält wie das Wirtschaftsministerium in Kiel. Die Umweltverbände sind die Anlaufstellen der Zukunft.
Manfred Kriener
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