: Estland: Ein Streik für Rußland
■ Russische Arbeiter fühlen sich durch estnisches Selbstbewußtsein diskriminiert / Gorbatschow für „Experiment“
Berlin (dpa/ap/taz) - Streik ist nicht gleich Streik. Zwar sollen nach Beilegung der Streiks in den sibirischen Kohlerevieren nun auch russische Werftarbeiter in Tallinn, Hauptstadt der Republik Estland, in den Ausstand getreten sein. Ihr Motiv hat jedoch keine sozialen Ursachen wie in Sibirien. Mit ihrem Streik protestieren sie gegen einen Gesetzesentwurf, der dem Obersten Sowjet Estlands zur Beschlußfassung vorliegt.
Darin ist vorgesehen, Bewohnern der Republik nur dann ein aktives Wahlrecht einzuräumen, wenn sie zwischen fünf und fünfzehn Jahren in der Republik gelebt haben. Passives Wahlrecht sollen Nicht-Esten erst nach zwei Jahren Aufenthalt in der Republik erhalten. Gleichzeitig richtet sich der Widerstand der russischsprachigen Zuwanderer gegen ein am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getretenes Sprachengesetz, das Estnisch zur Geschäftssprache erhebt. Demnach müssen in Estlandbeschäftigte Russen binnen einer Frist von vier Jahren das Estnische erlernen.
Als Träger der Streiks figuriert eine Organisation mit dem Namen „Interdvijenie“ (Internationalistische Bewegung), der vornehmlich Russen angehören. Auch in anderen Republiken ist sie in der vergangenen Zeit verstärkt aufgetreten als eine Bewegung, die sich gegen die durch die Umgestaltung freigesetzten Bestrebungen nach nationaler Souveränität zur Wehr setzt. In der Forderung der estnischen „Volksfront“, die Sowjetunion solle die gewaltsame Annexion der baltischen Republik durch Stalin 1940 anerkennen, sieht diese Gruppierung bereits eine Vorstufe der Loslösung Estlands aus der Union.
Nach dem 2. Weltkrieg hatte Estland unter einer starken Russifizierung zu leiden. Neben den 900.000 Esten leben heute 650.000 Russen in der nördlichen Republik. 80 Prozent aller Industriearbeiter und die meisten leitenden Angestellten der noch von Moskau abhängigen großen Industriebetriebe sind Russen. Estnische „Grüne“ und „Volksfront“ wollen das heute nicht mehr hinnehmen.
Auch der Oberste Sowjet beschäftigte sich gestern mit der Forderung der baltischen Republiken nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit. Michail Gorbatschow sprach sich grundsätzlich dafür aus. Er warnte hingegen, „bei diesem Experiment müssen die Interessen der ganzen Föderation berücksichtigt werden“. Volle ökonomische Souveränität würde in Widerspruch zur Verfassung stehen.
Die Lage in der autonomen Republik Abchasien und in Teilen Georgiens, wo es seit Wochen zu gewalttätigen Auseinadersetzungen zwischen moslemischen Abchasen und christlichen Georgiern gekommen ist, bleibt weiter gespannt. Allein in Abchasien hat die Polizei am Mittwoch 199 den Sicherheitskräften geraubte Waffen sichergestellt und 74 Personen festgenommen. Laut TASS seien zwei Sprengstoffanschläge verübt worden, die jedoch keine Verletzten forderten. kh
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