Schöne neue Welt des Telefonierens

■ Das gute alte Drahttelefon wird zum Überwachungsinstrument / Telefonate werden künftig gespeichert

Wenn es nicht bald zu massiven Protesten von aufgeschreckten Postkunden kommt, wird schon 1994 ein weiteres Stück Orwellscher Vision erschreckende Realität: Komplette Listen von immer mehr Telefonteilnehmern können genau verraten, wer wann mit wem wie lange telefoniert hat. Noch sind von dieser „Kommunikationszählung“ nur die relativ wenigen Postkunden mit einem ISDN-Anschluß betroffen. Aber wenn rund um das Jahr 2000 der digitale Universalanschluß für den „Normalverbraucher“ die Regel wird, dann hinterläßt jeder mit seinen Telefonanrufen für Big Brother eine breite Datenspur. Und wer arglos den seit Anfang Juli von der Post angepriesenen regelmäßigen Einzelgebührennachweis für seine Telefonrechnung beantragt hat, schluckt schon heute die Einstiegsdroge, die später zum perfekten Kommunikationsprofil werden könnte.

Am 4. März 1990 hing in der Villa des Münchner Rechtsanwalts Dr. B. der Haussegen schief. Gerade war die Telefonrechnung mit der genauen Gebührenaufschlüsselung gekommen, die die Post ihrem Kunden als Serviceleistung regelmäßig ins Haus schickt. Insgesamt dreiundzwanzigmal, so konnte Dr. B. aus dem Computerausdruck entnehmen, hatte seine Gattin im letzten Monat mit diesem verfluchten Bildhauer K. telefoniert, obwohl sie immer treuherzig beteuert hatte, der Kontakt zu dieser „Affäre“ sei längst abgebrochen. Dr. B. triumphierte: die Gattin war überführt.

Schnell überführt war im selben Jahr auch der Hamburger Kleindealer A., der zuvor der Fernsehjournalistin L. wichtige Informationen für ihre Reportage über die Hamburger Drogenszene geliefert hatte. Ein Besuch im örtlichen Gebührenrechenzentrum der Bundespost hatte die Strafverfolger auf die Spur des Dealers gebracht. Dort im Rechenzentrum, wo die Uniformierten in letzter Zeit häufig zu „Gast“ waren, hatte der Computerausdruck über die Journalistin L. ergeben, daß sie im Monat August auffällig häufig mit einer Nummer im Ortsteil St.Pauli telefoniert hatte. Und die war auf der Liste ihrer Telefonate im Vormonat kein einziges Mal aufgetaucht. Noch am selben Tag erwischte die Polizei den Dealer A. in seiner Wohnung, auf die die Datenspur der Post sie gebracht hatte.

Noch viel schneller machte die Justiz wenige Wochen später einen anonymen Anrufer dingfest, der gegenüber der bundesweit bekannten Chemieschleuder H. eine spektakuläre Protestaktion angekündigt hatte. Bevor die Aktion starten konnte, standen die Polizeibeamten schon vor der Tür des überraschten Anrufers. Ohne daß er es ahnte, hatte er auf dem kleinen Bildschirm des Telefonapparats der Firma B. seine Rufnummer hinterlassen.

Drei noch recht harmlose Szenarien aus dem Telefonalltag des nächsten Jahrzehnts. Sie stammen nicht aus den Köpfen der ständigen Warner vor dem „totalen Überwachungsstaat“, sondern sind durchaus realistisch, wenn die jetzt gestellten Weichen nicht noch umgedreht werden. Datenschutzbeauftragte warnen seit Jahren davor, daß die Post unter dem Deckmantel neuer Dienstleistungsangebote zu einem überwachungsinstrument werden könnte. Schon in naher Zeit, so fürchtet man auch beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz, werden sich bei den Fernmeldeverbindungsstellen und Gebührenabrechnungszentren riesige Datenberge über das Kommunikationsverhalten von Millionen anhäufen.

Die technischen Weichen für diese schöne neue Telefonwelt werden seit Anfang März unter dem Buchstabenschlüssel ISDN quer durch die Bundesrepublik verlegt. ISDN ist das Kürzel für den genauso unverständlichen Namen „diensteintegrierendes digitales Fernmeldenetz“ und bedeutet - stark vereinfacht - für den normalen Postkunden erst einmal: er kann zum günstigen Tarif über einen einzigen Universalanschluß außer dem normalen Telefon noch andere Gerätschaften wie z.B. ein Telefaxgerät anschließen. Anfang März wurden auch die ersten ISDN-Anschlüsse in der Bundesrepublik feierlich in Betrieb genommen. Bisher gibt es nur 2.000 dieser Universalanschlüsse, meist bei Firmen oder Freiberuflern. Bis zum Jahr 2000, so rechnet die Industrie, werden sieben Millionen Postkunden, darunter drei Millionen Privatleute, ihr altes Telefon verschrottet haben und auf ISDN umsteigen. Und nach der Jahrtausendwende, prognostiziert Regierungsdirektor Horst Alke, Fernmeldereferent beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz, „werden sich die Universalanschlüsse ausweiten wie ein Flächenbrand. Der Zeitpunkt, zu dem es nur noch ISDN -Anschlüsse gibt, ist nicht mehr fern. Und da gilt es vorzubeugen, denn das kriegt eine sehr große Brisanz.“

Was die Brisanz dieser ISDN-Anschlüsse ausmacht, zieht sich seit Jahren durch Berichte des Bundesdatenschutzbeauftragten und Sitzungen des Postausschusses des Bundestages: Im „guten alten“ Fernsprechsystem werden bei den Vermittlungsstellen der Post die Verbindungsdaten der Telefonteilnehmer sofort nach Ende des Gesprächs gelöscht. Gespeichert wird nur die anfallende Gebühreneinheit. Zur Zeit jedoch rüstet die Bundespost rund 6.000 alte Ortsvermittlungsstellen auf eine digitalisierte Vermittlung um. Monat für Monat wird dann genau gespeichert, mit wem der ISDN-Teilnehmer zu welcher Uhrzeit wie lange telefoniert hat. All diese Daten werden künftig an zwölf große Rechenzentren der Post weitergeleitet und dort insgesamt drei Monate lang „aufbewahrt“. Begründet wird diese Speicherung damit, daß die Postkunden gern eine genaue Aufschlüsselung ihrer Telefonrechnung hätten. Tatsächlich jedoch verlangt bisher gerade einmal ein Promille der Telefonkunden einen solchen Einzelgebührennachweis. Da dieses Promille angeblich aus technischen Gründen nicht herauszufiltern ist, speichert die Post alle ISDN-Teilnehmer. Die vermeintliche Dienstleistung wird zum Bumerang - zum Kommunikationsprofil.

„Enorme Datenberge über die Kommunikation von Millionen von Menschen entstehen dadurch in den Rechenzentren der Post“, warnt der Bremer Informatikwissenschaftler Herbert Kubicek vom neu gegründeten „Institut für Informations- und Kommunikationsökologie“ (IKÖ). Nach der Volkszählung komme nun die Kommunikationszählung. Die entstehenden Datenberge weckten „Begehrlichkeiten“ von Ermittlungsbehörden und Geheimdiensten und seien „technisch und rechtlich nicht wirksam zu schützen“. Tatsächlich erlaubt eine längst verstaubte Vorschrift aus dem Fernmeldeanlagengesetz von 1928, daß Ermittlungsbehörden von der Post Auskunft über das Fernmeldeverhalten einzelner Beschuldigter verlangen können. Doch wo die Post früher bestenfalls ein Telegramm präsentieren konnte, kann sie heute den Behörden eine Liste darüber vorlegen, mit wem ein Verdächtiger wann und wie oft telefoniert hat. Anders als beim Telefonabhören, das richterlich angeordnet werden muß und nur bei besonders schweren Straftaten durchgeführt werden darf, können die Post-Computerlisten schon bei Bagatelldelikten „gefilzt“ werden.

Besonders brisant werden diese neuen Überwachungsmöglichkeiten für Berufe und Institutionen, wie etwa Journalisten, Rechtsanwälte, und Aidsberatungsstellen oder Drogentherapieeinrichtungen, die allesamt auf Anonymität und Informantenschutz angewiesen sind.

Problematisch ist auch eine weitere Neuerung, die im Zuge der Einführung von ISDN den Postkunden als Service angeboten wird. Bei neuen Telefonapparaten soll künftig auf einem kleinen Display die Telefonnummer des Anrufers erscheinen. Der Angerufene kann mit einem Blick entscheiden, ob er überhaupt für diese „Nummer“ zu sprechen sein will. Er kann aber auch blitzschnell ermitteln, von wo aus sein Gegenüber anruft. „Es geht“, so resümiert Regierungsdirektor Alke beim Bundesdatenschutzbeauftragten die Gefahren der neuen Telefontechnologien, „um das Recht auf unbeobachtete Kommunikation, und das ist ein Grundrecht.“

Ihr Grundrecht verspielen können derzeit aber auch die Telefonkunden selber. Als Vorstufe für die Ausstattung der gesamten Bundesrepublik mit ISDN-Anschlüssen stellt die Post derzeit Schritt für Schritt die gesamte Telefonvermittlung auf eine Digitalisierung um. Und seit Anfang Juli bietet sie allen Fernsprechteilnehmern in den schon digitalisierten Zonen einen regelmäßigen Einzelgebührennachweis an. Diese Gebührenaufschlüsselung war bisher aufwendig und teuer, jetzt ist sie technisch leicht machbar und soll zum Regelservice werden. Doch das bedeutet auch, daß die Daten über sämtliche Telefongespräche genau wie bei ISDN drei Monate lang gespeichert werden. Auf diese Weise landen nicht nur diejenigen in den Computerlisten, die einen solchen Einzelgebührennachweis beantragt haben, sondern auch die, die bei diesen Leuten anrufen oder von ihnen angerufen werden. Beim Datenschutzbeauftragten wird diese Praxis für schlichtweg rechtswidrig gehalten. Die Speicherung der vollständigen Rufnummern sei zu unterlassen, fordert der Datenschützer, denn zur Überprüfung der Telefonrechnung müßten die Telefonpartner ja nicht identifizierbar sein. Die Anfangsziffern der Rufnummer des jeweils Angerufenen reichten aus. Technisch wäre diese Umstellung auf eine Anonymisierung in Minutenschnelle zu bewerkstelligen, aber das Postministerium stellt sich stur und hat auf die förmlichen Beanstandungen des Datenschutzbeauftragten nicht reagiert. „Und leider“, so Datenschützer Alke, sind bisher auch die Bürger sehr wenig problembewußt.“

Vera Gaserow