: SPD-Parteiprogramm: „Good will“ ohne Analyse
■ Flickenteppich von Grundsätzen, Forderungen und Lösungsvorschlägen / Integrationsstrategie gegenüber Öko-, Friedens- und Frauenbewegung Wirtschaftsdemokratie als Ziel ohne Weg / „Utopischer Überschuß“ der Lebensinteressen von Menschen benötigt andere, neuartige Realpolitik
Was jetzt vorliegt, ist alles andere als ein aus verschiedenen Richtungen erkennbares, im Boden befestigtes Fanal, von dem Rauch- und Feuerzeichen aufgehen. Es ist ein Programm der Konzeptions- und Hilflosigkeit, dessen Verfasser das Kunststück zuwege gebracht haben, daß in ihm gleichzeitig nichts Falsches und nichts Richtiges enthalten ist. Das Godesberger Programm hatte Ecken und Kanten, die Reibung erzeugten und politische Positionskämpfe auslösten, die über Jahre sich hinzogen und im Grunde erst in der Zeit der sozialliberalen Koalition abebbten. Selbst Adorno fühlte sich provoziert und soll (wenn man Aussagen enger Mitarbeiter vertrauen darf) gelegentlich die Absicht bekundet haben, eine Kritik des Godesberger Programms zu schreiben. Dem neuen Programm fehlt die Arbeit der Zuspitzung, also jene Kraft der Verdichtung von Problemen, aus der sich Politisierungsprozesse der noch nicht Politisierten ergeben können.
Guter Wille noch und noch
Was an kritischer Gesellschaftsanalyse fehlt, wird im Übermaß durch Prinzipiendokumentation des guten Willens, der Solidaritätsziele und der humanen Versprechungen wettgemacht. Wie schwer kritische Gesellschaftsanalyse und strategisches Wollen so in Einklang miteinander zu bringen sind, daß Sein und Sollen, die widersprüchlichen Herausforderungen der Gesellschaft und die politischen Antworten darauf, der gute Wille und die schlechte Wirklichkeit konkret durcheinander vermittelt sind, zeigen durchwegs die Programme in der langen Geschichte der Sozialdemokratischen Partei (von den anderen Parteien ganz zu schweigen).
Der vorliegende Programmentwurf ist durchgängig vom guten Willen diktiert. Da setzt sich eine theoretische Tradition innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, die auf Kant zurückgeht, und die sehr viel dazu beigetragen hat, daß diese Partei die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts überstehen konnte. Kant hatte in seiner kleinen Schrift „Gundlegung zur Metaphysik der Sitten“ davon gesprochen, daß in der Welt nichts als uneingeschränkt gut befunden werden könne, außer dem guten Willen. Kein anderes Merkmal kennzeichnet den sozialdemokratischen Charakter so genau, wie der Wille, Gutes zu tun, sich anständig zu verhalten, eine humane und solidarische Gesellschaft herzustellen, die von Ausbeutung, Entwürdigung und Unterdrückung frei ist. Aber ist es die Aufgabe dieses neuen Programms, die politisch-moralische Integrität der Sozialdemokratie und der Sozialdemokraten ins rechte Licht zu setzen?
Das haben wir nicht gewollt!
Otto Wels, dieser mutige Sozialdemokrat, hielt am 23.3.1933, als die Nazis das Parlament faktisch schon abgeschafft hatten und deren Mörderbanden die Straßen beherrschten und in Wohnungen eindrangen, eine wohldurchdachte Verteidigungsrede im Reichstag: im Grunde war es die letzte öffentliche zugelassene Anklage, die sich Hitler, auf der Regierungsbank sitzend, anhören mußte. Was diese Rede charakterisiert, ist eine Mischung von Leistungsstolz, moralischem Widerstandswillen und eingestandener gesellschaftlicher Ohnmacht. Zum ersten Mal mußte die sozialdemokratische Partei, anders als in der Zeit der Sozialistengesetze, erfahren, daß sie nicht nur von allen Machtbeteiligungen ausgeschlossen, sondern in ihrer physischen Substanz vernichtet und aus dem Lande vertrieben werden sollte, für dessen wechselvolle Geschichte sie fast siebzig Jahre lang mitverantwortlich gewesen ist. Otto Wels sagte unter anderem: „Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden... Wir Sozialdemokraten wissen, daß man machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache ihrer augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewußtsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewußtsein zu appellieren... Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundrechten der Menschheit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.“
Problematischer bei dieser Willensmetaphysik ist nicht menschliche Integrität, sondern darin angelegte Entlastung von den Wirklichkeitsverwicklungen, in die der gute Wille jedoch zwangsläufig gerät. Erfahrungen des Scheiterns der sittlichen Absichten werden von Sozialdemokraten, die sich dessen wenigstens im Nachhinein bewußt werden, in der Regel mit dem Satz kommentiert: Das haben wir nicht gewollt! Sie haben es wirklich nicht gewollt, aber andere haben diesen Willen umgedreht, nicht selten ins Gegenteil verkehrt. Die fatalen Wirkungen der Extremistenbeschlüsse Anfang der siebziger Jahre, an denen Sozialdemokraten maßgeblich beteiligt waren, ist das jüngste Beispiel einer solchen nachträglichen Distanz von einem Willen, dessen Ziele in der Realität deshalb verkehrt werden können, weil dem Willen keine kritische Wirklichkeitsanalyse zugrunde liegt.
Umkehrung von
Ausgrenzung
Wird in einem solchen Grundsatzprogramm mit unterschlagenen Wirklichkeiten gearbeitet, so stellt sich zwangsläufig eine Parallelität zwischen einer Welt der guten Vorsätze, der gewandelten Werte, der gesinnungsethischen Begründungen und der profanen Welt des politischen Geschäfts mit einer von allen Grundsätzen befreiten Sozialtechnologie der Einzelprobleme her. Es ist nicht so, daß die drei großen Herausforderungen des zwanzigsten Jahrhunderts: soziale Gerechtigkeit, politische Demokratie und individuelle Emanzipation im Programmentwurf fehlten; sie befinden sich verstreut in allen Teilen. Aber das geringste Maß an geschichtlicher Selbstreflexion, unter dem dieser Programmentwurf leidet, gibt dem ganzen den Charakter der zufälligen Aneinanderreihung von Grundsätzen, Forderungen und pragmatischen Lösungsvorschlägen. Warum ein solches Programm überhaupt gegenwärtig nötig ist, muß der Leser erraten; eine zündende Idee hat es nicht. Und Leitgedanken?
Einer dieser Leitgedanken ist die abstrakte Umkehrung der Ausgrenzungspraxis, wie sie, um die nach Godesberg neu errungene, aber gebrechliche Identität zu bewahren, über fast 30 Jahre ausgiebig geübt wurde. Indem die politischen Grenzen dieser Ausgrenzungen erfahren wurden, wird jetzt die Strategie einer organisatorischen Integration formuliert, durch die praktisch alles, was sich auf dem linken Spektrum von Bürgerinitiativen, sozialen Emanzipationsbewegungen entwickelt hat (in den meisten Fällen unabhängig oder sogar gegen den sozialdemokratischen Parteiwillen), in die Grundsatz-Verfügung der Partei zurückgenommen wird: Frauenbewegung, Ökologie, Friedensinitiativen, Veränderungen des Systems gesellschaftlicher Arbeit sind plötzlich Programmpunkte der SPD; das ist nicht glaubwürdig. Sinnvoller wäre es, ein grundsätzlich verändertes Verhältnis zu diesen Bürgerinitiativen herzustellen und deren Autonomie ausdrücklich zu bestätigen, um dadurch auch in aller Offenheit die Grenzen des eigenen politischen Handelns darzulegen.
Ohne neuen Begriff
von Realpolitik
Es ist gut, daß dieses Programm in einer Atmosphäre postmoderner Beliebigkeiten an der Grundidee des demokratischen Sozialismus festhält. Große Teile des Ideengehalts in diesem Begriff sind noch nicht Realität. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Grundwerte des demokratischen Sozialismus sind, wie Bloch sagen würde, unabgegolten. Es sind geschichtliche Ideen, die der Realisierung bedürfen. Aber gerade weil diese Idee des demokratischen Sozialismus ihre Aktualität nicht eingebüßt hat, bedarf sie der geschichtlichen Präzisierung. Was heißt das denn im Ernst in bezug auf die Wirtschaftsverordnung oder die Planungsrationalität einer Gesellschaft? Wie werden die zugrundeliegenden Klassestrukturen und Machtverhältnisse so umgestaltet, daß soziale Gerechtigkeit, politische Demokratie und individuelle Emanzipation den Menschen ein würdiges gesellschaftliches Leben eröffnen? Ich bin sicher, daß es keine schlüssigen Antworten auf diese sozialistischen Organisationsprobleme der Gesellschaft gibt. Nachdem fast alle Realitätsansätze, die sich mit den Worten Sozialismus oder Kommunismus drapierten, dem Arsenal der Enttäuschungen zugefallen sind. Aber es müssen die offenen Fragen benannt werden, auf die sich politische Organisationsphantasie richten könnte.
So bleibt die Wirklichkeit in diesem Programm der guten Absichten begrifflich im Dunkel und für die politische Praxis strukturloser Rohstoff, an den kein präziser Hebel der Bewegung angesetzt werden kann. Da steht dann der Satz unter der Überschrift „Überwindung der Klassengesellschaft“: „Als Demokratie des Grundgesetzes ist die Bundesrepublik kein Klassenstaat. Aber unsere Gesellschaft ist durch alte und neue Privilegien gekennzeichnet...“ usw. Aber wenn es nun keine Klassengesellschaft gibt, sondern lediglich eine durch Disparitäten zerrissene, in Privilegien, Einkommen, Vermögen, Chancen unterteilte Ordnung existiert, wie ist dann der Satz zu verstehen: „Wir erstreben eine solidarische Gesellschaft der Freien und Gleichen ohne Klassenvorrechte, in der alle Menschen gleichberechtigt über ihr Leben und ihre Arbeit entscheiden. Die neue und bessere Ordnung, die der demokratische Sozialismus erstrebt, ist eine von Klassenschranken befreite Gesellschaft.“ Gibt es also eine Klassengesellschaft, so muß man deren gegenwärtige Machtstrukturen bezeichnen, um sie bekämpfen und überwinden zu können. Eine klassenlose Gesellschaft stellt sich nur her als Resultat eines Kampfes gegen die privilegierten Ordnungen der Klassengesellschaft. Vielleicht will man aber doch die Realität von Klassenstrukturen nicht aus dem Bewußtsein drängen, fürchtet aber den daran geknüpften Begriff des Klassenkampfes.
Mehr Selbstreflexion nötig
Eine ähnliche Mehrdeutigkeit enthält der Begriff des Kapitalismus und das, was in der Wirtschaftsdemokratie gedacht ist. Auch in diesem Punkt hält der Programmentwurf mit Recht an einer Idee fest, die ja nach 1945 in das Ahlener Programm der CDU eingegangen war und das von jenen Kräften geteilt wurde, die die Beteiligung des Kapitalismus am Faschismus erkannt hatten. Aber Wirtschaftsdemokratie ist doch, wenn sie nicht als eine unverbindliche Formel benutzt wird, als bloße Norm mit gewaltigen Umgliederungen der bestehenden Ökonomie verknüpft, so daß hier Herrschaftspositionen härtester Natur bedroht sind. Es heißt: „In der Wirtschaftsdemokratie haben gesellschaftliche Ziele Vorrang vor den Zwängen privatwirtschaftlicher Kapitalverwertung.“ Das geht ja weit über die gewerkschaftlichen Mitbestimmungsforderungen hinaus, läßt aber völlig offen, wie die „Zwänge privatwirtschaftlicher Kapitalverwertung“ gebrochen werden können.
Viel Glaubwürdigkeit könnte die SPD heute, da Ausgrenzungen kaum noch ein Problem für sie ist, hinzugewinnen, wenn sie weniger Arbeit auf Werte- und Programmdiskussionen und mehr Reflexionszeit auf die Wirklichkeit lenken würde. Denn von einer Partei der Wirklichkeit ist sie noch weit entfernt; wieder öffentlich zu machen, was in Bereichen unterschlagener Wirklichkeit gehalten wird, daß es sich um eine kapitalistische Gesellschaftsordnung handelt, deren Krisen nicht durch ein staatsvermitteltes Management zu beseitigen sind, ist erste Anforderung an eine sozialdemokratische Partei, die Zukunft als Volkspartei haben will. Sie muß aufrichtig nicht nur im Wollen und den Absichten sein: Aufrichtigkeit ist auch in der Bestimmung der eigenen Grenzen des Handelns nötig. Die Umgliederung des gesamten Systems gesellschaftlicher Arbeit steht auf der Tagesordnung, damit eine neue Gesellschaft. Dafür bedarf es keines großen kategorischen Entwurfs mehr. Allerorten sind in der bestehenden Wirklichkeit Tendenzen und Kräfte erkennbar, die über das Gegebene hinausweisen und Gesellschaftspolitik in einem umfassenden Sinne erforderlich machen. Sich ihrer neuen geschichtlichen Aufgaben als konsequente Reformpartei bewußt zu werden, d.h. den eigenen Traditionsansprüchen zu genügen, ist eine Existenzfrage für die SPD, kein intellektueller Luxus, auf den man auch verzichten könnte.
Sich der Utopien annehmen
Was ich sagen will, läßt sich auf einen Punkt zuspitzen: die SPD muß einen neuen Begriff von Realpolitik entwickeln. Heute kann Realpolitik, die aufgreift, was die Wirklichkeit selber als Emanzipationsmöglichkeiten enthält, nicht mehr auf die Normen und Regeln der bestehenden Gesellschaftsordnung verpflichtet werden!
Wie Realpolitik bisher verstanden wurde, als Sozialtechnologie der Einzelprobleme, schlägt aber sehr schnell in etwas Unwirkliches, in Gespensterdasein um. Das pragmatische Ausfüllen von Lücken und die nervöse Reaktion auf Krisenherde, die kurzfristige technische Lösungen herausfordern, verdecken zusätzlich die Lebensinteressen der Menschen, die nach Orientierung drängen. Hierin liegt jener utopische Überfluß, der zu seiner Realisierung einer Realpolitik bedarf, in der sich politische Moral und gesellschaftliches Bewußtsein miteinander verknüpfen. Sollte es der Sozialdemokratie gelingen, eine solche Realpolitik zu entwickeln und in der Öffentlichkeit überzeugend darzustellen, so wäre sie durchaus imstande, als organisiertes Zentrum der gesellschaftlichen Umgestaltung akzeptiert zu werden. Oskar Negt
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