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HARUN FAROCKI

 ■  Schiefe Bilder

Es war gestern, vor vierzehn Tagen, vor vierzehn Jahren, daß ich im Fernsehen einen Bericht über den Wohnungsbau in Sibirien sah oder über die überschüssigen Lebensmittel in Europa. Ich weiß, daß die meisten Silos aus Gründen der Statik rund sind, was aber tun die Zehntausende von Studenten der Fernseh-, Film- und Zeitungswissenschaften in ihren viereckigen Hochschulgebäuden? Die Zeitungsforscher könnten mir eine Untersuchung machen, ob der 'Spiegel‘ zu Reagan den Abstand halten konnte, den die 'Frankfurter Zeitung‘ zu Hitler hatte halten wollen. Beim sibirischen Fertigbau ändern sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Balkonbefestigungen, gibt es diese Änderung auch im Bauplan einer Fernsehsendung? Heute gibt es im Fernsehen weniger Ölkrise und mehr Regenwald und weniger Terror und mehr Hilfe zur Selbsthilfe als früher, als die Bilder noch nicht wie Sitzkissen durch die Stierkampfarena segelten. Ist das alles?

Jetzt oder niemals habe ich einen Fernsehfilm über den Wohnungsbau in Sibirien gesehen. Die Kamera schwenkte von den Holzhäusern am Bahnhof zu den achtstöckigen Neubauten am Fluß herüber, ich hörte: „für bescheidenen Komfort dankbar“, „die verlorene Welt der Pelztierjäger“, „ohne Zuckerbäcker -Zierat der Stalinära“ - da entdeckte ich ein Haus, das weder alt und aus Holz noch neu und aus Beton war. Ein Geisterhaus, weil es keinem der beiden Bildbegriffe unterfiel, die der Schwenk ausprägte, und weil die Kommentatoren es unerwähnt ließen. Vor drei Jahren gelang es mir, eine ganz kommentarlose, also Geistersendung im Fernsehen unterzubringen, da bekam ich viele Briefe geschickt, die fragten, was ich denn von den Vorgängen hielte, die ich gezeigt hatte. Ich schrieb zurück: Machte ich heute eine Sendung über die Kreuzigung Christi, sogleich werde sich der Spitzenverband der deutschen Schraubenindustrie beschweren, daß die Arme und Beine mit Nägeln befestigt worden. Und warum solle ich einen Kommentar beigeben, da doch der Schreiber den Text, den er an mich abgesandt, schon beim Ansehen der Sendung im Ohr gehabt habe. Ich schrieb von Christus und den Nägeln, weil die meisten Briefe von Public-Relations-Leuten kamen, aber auch wer nicht dafür bezahlt wird, sieht auf den Fernsehbildern nur das, was ihm mit Wörtern und Bilderanordnung (am schlimmsten: mit Musik) bedeutet wird. Und vergleicht das Gehörte mit dem Text, der ihm schon vorgegeben ist: seinem Verbandstext - jeder Zuschauer ist Mitglied und Funktionär im Verband der Endverbraucher der Fernsehbilder.

Ich spreche hier von Einem und setze mit einem Anderen fort, das eine unvorhersichtliche fortgesetzte Rückehr zum ersten eröffnet, zur Darstellung einer unwilligen Sprunghaftigkeit. Der Bauplan einer Fernsehsendung über die Kreuzigung, medienbeobachtende Verkaufsfunktionäre oder den sibirischen Wohnungsbau ist dieser: Nach dem Geisterschwenk kommt ein sibirischer Fertigbauminister zu Wort, der noch schlimmer redet als ein Schraubenverbandsfunktionär, also folgt etwas von der Baubrigade, deren Arbeit sich aber nur erzählen ließe, wenn man entweder Tag und Nacht auf der Baustelle bliebe oder zu kaum vorauszusehenden Zeiten vierundzwanzigmal zu ihr zurückkehrte: Also nimmt man ein paar Momente dieser Arbeit auf und teilt mit dem Gezeigten nur mit, daß es diese Tätigkeit gibt, da sie filmbar ist, und läßt etwas aus dem Leben einer Neubaufamilie folgen, die einen Ausflug macht, bei dem sie von keinem Pelztier angefallen wird, so daß nun zu alten Stichen (und bei Musik) etwas von der Geschichte der Besiedlung Sibiriens folgen muß.

Das hätte ich schon vor fünfzehn Jahren schreiben können, als ich schrieb: „Als Zuschauender bekommt man nie die Möglichkeit zu prüfen, ob das Material wenigstens der Darstellungsabsicht entspricht. Schon die Absichten bleiben im dunklen, und auch für die, die sie hegen.“ Es kann nicht alles geblieben sein, auch in einem geschlossenen System gibt es Quantitätsverlagerungen und Formwechsel, das könnten die überschüssigen Studenten mit herausfinden. Der überschüssige Mais aus den Silos Europas wird an die Schweine verfüttert, diese werden zu Pulver gemahlen und den Hühnern vorgeworfen, die man unterpflügt, um ein Fischfutter zu düngen.

Der Filmemacher Harun Farocki produziert seit den sechziger Jahren, ist bekannt durch seine Essayfilme „Etwas wird sichtbar“, „Wie man sieht“, „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“. Er arbeitete auch fürs Sandmännchen und die Sesamstraße.

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