: Kameraden gibt's nicht mehr, der letzte starb in Stalingrad
50 Jahre nach Kriegsbeginn wird darüber gestritten, ob dem Nationalkomitee Freies Deutschland und dem Bund der Offiziere Verräter oder Patrioten angehörten ■ E S S A Y
Zur Vorbereitung auf den 50.Jahrestag des Kriegsbeginns setzte es einen Streit um das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) und den Bund der Offiziere (BDO), beides Gründungen deutscher Gefangener in sowjetischen Lagern.
Nach Sendungen in ARD und ZDF nahm die Presse den Streit auf, der sich in nicht mehr zählbaren Veranstaltungen im Lande fortsetzt.
Der Konflikt spitzt sich auf die alte Frage zu, ob die Mitglieder von NKFD und BDO Verräter waren oder Patrioten.
Wer die Position vertritt, daß es sich um Verräter handelt, der stellt den Eid auf Hitler über alles andere. Auch über die Tatsache, daß der Eid auf einen Mann geleistet worden war, der seinerseits keinen Eid, keinen Schwur, Vertrag und kein Versprechen hielt, womit er zum größten und ersten Verräter an seinem Lande wurde.
Waren die NKFD-Mitglieder somit keine Verräter, so ist doch der Schluß noch nicht zwingend, in ihnen allen Patrioten zu sehen. Zweifellos gab es unter ihnen ehrliche und anständige Menschen, die sich unter dem Eindruck des Erlebten in Gefangenschaft von Hitler abkehrten und sich von der Abkürzung des Krieges eine Rettung Deutschlands versprachen.
Inwiefern dies dazu berechtigt, sie zum Widerstand zu rechnen, ist nur im persönlichen Einzelfall entscheidbar.
Ich würde Heinrich Graf von Einsiedel, der als junger Luftwaffenoffizier abgeschossen wurde und sich danach antifaschistisch aktiv betätigte, zum Widerstand rechnen.
Wer beobachtet hat, wie noch heute eides-, also führertreue Offiziere ihn dafür abkanzeln, mag ahnen, wie schwer es solche Antinazis in den Lagern gehabt haben.
Widerständler sind auch jene Deutschen, die als Gefangene im Auftrag des NKFD an die Front gingen, um deutsche Soldaten zur Beendigung des Krieges aufzufordern. Niemand weiß genau, wie viele dabei ihr Leben verloren haben. Ihrer wird am Volkstrauertag ebensowenig gedacht wie der exekutierten deutschen Deserteure.
Allerdings sind nicht alle NKFD-Mitglieder automatisch Patrioten oder Widerständler geworden.
Es gab unter ihnen Opportunisten, die sich nur ein besseres Leben im Lager verschafften. In manchen Fällen fällt es schwer, an eine Wandlung zu glauben, wenn Kommandeure bis zum letzten Blutstropfen ihrer Soldaten kämpften und dann ihr kostbares Leben retteten und im Lager innerhalb kurzer Zeit zu fanatischen Antifas wurden.
Ich will nicht ausschließen, da es auch darunter noch ehrliche Häute gab, Ausnahmen von der fatalen Regel.
Insgesamt gesehen, offenbarte die sowjetische Kriegsgefangenschaft die schlimmste Seite der vielbeschworenen militärischen Kameradschaft. Unter den unvorstellbaren Härten des Daseins im Lager traten die übelsten deutschen Eigenschaften ans Tageslicht.
Es ist wahr, so schlimm es uns in sowjetischer Gefangenschaft erging, den sowjetischen Gefangenen in deutscher Hand erging es noch schlimmer.
Von drei deutschen Gefangenen in der SU kam einer ums Leben. Von drei gegangenen Rotarmisten in deutscher Hand überlebte nur einer.
Überdies gab es ein offizielles deutsches Mordprogramm. Sowjetische Gefangene wurden planmäßig erledigt, erschossen, vergast.
Diesen Gipfel der Ahumanität erklommen die Sowjets nicht. Es wurde auf dem Marsch in die Gefangenschaft getötet. Es gab Morde und Gruppenmorde aus Ungehorsam. Die Masse der Toten aber fiel aus Entbehrung und Not an. Die meisten starben an Hunger und unzureichender Pflege. Dabei lagen die Sätze nicht unter dem Standard der Bevölkerung. Die deutschen Gefangenen mußten die Not des Landes teilen, die sie durch ihren Einmarsch selbst mit angerichtet hatten.
Wie alle Pauschalen hat auch diese ihren Fehler. Während der frei Lebende sich Zusatznahrung beschaffen kann, ist der Gefangene davon ausgeschlossen. Er hat nicht mehr als was er zugeteilt bekommt. Ist das zu wenig, hungert er aus.
Der Zahlenvergleich zwischen den deutschen und sowjetischen Soldaten, die in Gefangenschaft umkamen, hinkt denn auch. Die Deutschen, die erst nach Kriegsende in die sowjetischen Lager einrückten, fanden hier bessere Verhältnisse vor als die Altgefangenen während der Kriegszeit. Ihre Sterblichkeit gleicht derjenigen der sowjetischen Gefangenen in deutscher Hand.
Es gab Lager, die im Winter 43/44 und 44/45 bis zu 90 Prozent ausstarben. Das Beispiel der 91.000 Gefangenen von Stalingrad, von denen nur etwa 6.000 lebend zurückkehrten, steht nicht allein. Die Todesquote der Gefangenen beim Zusammenbruch des Mittelabschnitts im Jahre 1944 dürfte nicht viel tiefer liegen.
Keiner der vielen Berichte, die in den ersten Nachkriegsjahren über die Wojna Plennis erschienen sind, rechnet jedoch mit dem Schuldanteil der eigenen Kameraden ab.
Was Deutsche Deutschen in sowjetischen Lagern antaten, wird verschwiegen. Wie sich die Lagerbourgeoisie auf Kosten der Gefangenen mästete, wie geschoben und intrigiert worden ist, darüber schweigt der Autoren Höflichkeit.
Der Kampf ums Überleben ging bis zum Kameradenmord. Das damals aufgekommene Sprichwort „Kameraden gibt's nicht mehr, der letzte starb in Stalingrad“ ist der genaueste Ausdruck des letzten Zustands der deutschen Wehrmacht. Daran sollten sich die Überlebenden ein wenig erinnern, wenn sie beim nächsten Volkstrauertag der Gefallenen gedenken.
Nicht nur an die 30.000 exekutierte Wehrmachtsdeserteure starben durch eigene deutsche Hand. Auch an den 1,1 Millionen deutschen Toten in sowjetischer Gefangenschaft tragen Mitgefangene Mitschuld.
Denn so siegestrunken sie in Rußland eingefallen waren, so jämmerlich, feige und unkameradschaftlich benahmen sich nur allzuviele dann, als es schiefging.
Wer mehr wissen will, lese ...und führen, wohin du nicht willst, diesen „Bericht einer Gefangenschaft“ von Helmut Gollwitzer.
Das Buch hat nur drei Schwächen: Gollwitzer wurde erst bei Kriegsende gefangen. Seine Gottnähe tarnt die Gottesferne in den Lagern. Sein Buchtitel täuscht: Die Gefangenen hatten sich als Soldaten willentlich nach Rußland führen lassen.
Gerhard Zwerenz
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