Für ein offenes Bekenntnis zur Erneuerung

In einem offenen Brief forderte Alexander Dubcek die Kommunistische Partei der CSSR auf, sich an die Spitze der politischen Erneuerung zu stellen  ■ D O K U M E N T A T I O N

Die Partei und mit ihr das Volk unseres Vaterlandes verzeichnen auf ihrem Entwicklungsweg eine Reihe von Erfolgen. Aus der neueren Geschichte gehört hierher das Streben nach der Erneuerung der Tschechoslowakischen Republik, das Zusammenleben von Tschechen und Slovaken in einem Staat als zwei gleichberechtigte Völker.

Leider waren es nicht nur Erfolge, sondern auch beträchtliche moralische, politische und leider auch ökonomische Verluste, die nach und nach als Abgehen vom spezifischen tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus zum Ausdruck kamen.

Die Fakta bestätigen, daß es bei der Autorität und dem Vertrauen, welches die Führung der Partei, des Staates, der Regierung der Republik bei den Menschen hatte, nicht zur Schwächung der Parteiposition und des Sozialismus kommen konnte, eher umgekehrt. Das ist aus der Einstellung des Volkes zu diesen Werten ersichtlich, und zwar damals wie heute nach 20 Jahren. Dieses Streben nach Innovation, Erneuerung, Renaissance, Demokratisierung und Humanisierung des Sozialismus war entgegen dem Willen der konstituierenden Staatsorgane, des ZKs der KPTsch und hauptsächlich gegen den Willen des Volkes dieses Landes durch den militärischen Eingriff der fünf Länder des Warschauer Paktes zunichte gemacht worden. So endete ein weiterer Versuch der Partei und der Nationalen Front, einen neuen spezifischen Weg zum Sozialismus zu betreten. Betroffen und zutiefst verletzt wurde unser Volk, dem die „Gruppe der Einladenden“ unbekannt ist. Und die fünf Parteiführungen der Kommunistischen Parteien nahmen ihm die Möglichkeit, über die eigenen Wege zur sozialistischen Entwicklung zu entscheiden. Die dritte Last der Vergangenheit und damit auch des Weges zur Erneuerung der Partei und der Gesellschaft besteht in der Absenz einer objektiven Sicht auf die Stagnationsperiode der Jahre 1970 bis 1985, als alle tragenden Prinzipien des Aktionsprogramms bis zu ausgearbeiteten ökonomischen Reformen und der Selbstverwaltung der Betriebsorgane annuliert wurden. Die Folgen dessen zeigten sich in der Vertiefung des ökonomisch-wissenschaftlichen, technischen Rückschritts und in der Vertiefung der Krise in der Partei und der gesamten Gesellschaft. Das Aktionsprogramm wurde ersetzt durch eine neue, den Zwecken angepaßte Politik der Belehrung.

Die Gesellschaft wird hin- und hergerissen in der Gefangenschaft der Aussichtslosigkeit. Auch wenn es an der Oberfläche noch nicht in vollem Maß sichtbar ist. Seit dem Jahr 1985 haben sich die äußeren, die Entwicklung unserer Gesellschaft beeinflussenden Bedingungen geändert. Es ist der neue politische Kurs der sowjetischen Kommunisten, der abgesehen von seinen Spezifika so nah bei der tschechoslowakischen Erneuerung des Jahres 68 liegt und bis zur Übereinstimmung vieler Grundprinzipien reicht. Dieses zu leugnen entbehrt jeder Berechtigung. Oben habe ich an einige Lasten unserer Vergangenheit erinnert. Ich nehme an, daß wir, ohne sie zu überwinden, nicht das Vertrauen in die Werte der neuen Erneuerungspolitik wiedergewinnen können, nicht das moralische, humane, demokratische Prestige des Sozialismus im Denken und Tun unseres Volkes steigern können. Im Gegensatz hierzu proklamiert man von den höchsten Stellen, daß man nichts Grundsätzliches am Bild unserer neuesten Vergangenheit ändern wird.

Das Beispiel der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zeugt davon, daß in der Sowjetunion die Partei alles neu bewertet, was das unseelige Erbe der Deformationen, der Fehler und der Willkür hinterlassen hatte, und zwar, um den Balast auf dem Weg der Erneuerung abzuwerfen. Mit meinem Hinweis auf die gewesenen und bestehenden Mängel will ich das ZK der KPTsch daran erinnern, daß die Verzettelung der andauernden Krise unserer Gesellschaft sowie der Weg aus ihr hinaus vor allem in der Politik liegt. So wie die avantgardistische Position der Partei zum Tragen kommen soll, sollte die neue Politik von der Parteienerneuerung ausgehen. Sie sollte nicht weiterhin den Blick in die Vergangenheit und auch nicht den Dialog über Schaffung der Ausgangspunkte der gesellschaftlichen Erneuerung ablehnen. Wenn das die Partei nicht tut, könnte sie unter bestimmten Umständen dem Sozialismus einen weiteren Schaden zufügen.

Wenn heute das Präsidium des ZK der KPTsch kritisch hinweist auf den Verlust der Positionen der Kommunistischen Parteien in Polen und Ungarn, dann sollte es auch im ZK der KPTsch darüber nachdenken, was der Grund für den Vertrauensverlust des Volkes in die Parteipolitik ist. Ich habe ernste Sorge, daß in diese Richtung auch die „Normalisierungspolitik“ der KPTsch geht, die die objektiven Fakta und die Wahrheiten nicht respektiert und sich bemüht, entgegen der Logik der Entwicklung die deformierten, durch die Entwicklung überholten Ausgangspunkte aufrechtzuerhalten. Dabei reden sie sich ein, daß sie auch mit dieser Last vorankommen. Es sind unangenehme Fakten, und es ist nicht nötig, vor der Wirklichkeit die Augen zu verdecken und das Denken zu verdunkeln. Je länger das gegenwärtige Bremsen der wahren Erneuerung der Partei und der Gesellschaft ist, desto schwerer werden die Früchte dieser schon viel zu lange andauernden Stagnationspolitik.

Sozialismus soll untrennbar verbunden sein mit einem andauernden Fortschritt, mit der sozialen Gerechtigkeit. Sozialismus und Humanismus sind gleichermaßen unzertrennlich wie auch Demokratie und Sozialismus. Dies soll in der Gesetzesordnung festgelegt und durch rückwirkende Verbindungen und durch die Macht des Volkes, durch das Respektieren der Menschen- und Bürgerrechte, durch die Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit und die Gleichheit aller vor dem Gesetz gesichert sein. Sozialismus und die Entwicklung der vielseitigen menschlichen Bedürfnisse sollten in einer Einheit mit der Sorge um die Umwelt und die Verbindung des Menschen mit der Natur sein. Sozialismus muß sich trennen und lossagen von allem, was seine Entwicklung bremst, was ihm das Recht zu existieren und seine historische Berechtigung nimmt. Sozialismus soll die Kreativität der arbeitenden Massen darstellen, die in der wirklichen Macht des Volkes, seinem Einfluß auf die Entwicklung und Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten besteht. Sozialismus sollte durch einen andauernden Aufstieg von europäischer vergleichbarer Produktivität der Arbeit und der Produktivkräfte repräsentiert sein. Sozialismus sollte den Fortschritt repräsentieren. Und gestehen wir es uns offen ein: War es immer so, und ist es so auch heute? Nein.

Die Lösung sehe ich in einer nachdrücklichen Anwendung der Perestrojka der Sowjetunion auf unsere Bedingungen und in einem offenen Bekenntnis zur Erneuerung, wie sie im Aktionsprogramm des Jahres 1968 niedergelegt ist, unter Einbeziehungen derjenigen neuen Tatsachen, die die Gegenwart gebracht hatte. Dies setzt voraus, sich vor dem Angesicht des Volkes von den Deformationen und den Unwahrheiten über das Jahr 1968 zu trennen. Wenn das nicht das ZK tut, wird dies Wasser auf die Mühlen derjenigen Strömungen sein, die für die Entwicklung des Sozialismus und der gegenwärtigen Erneuerung unerwünscht sind. Es ist notwendig, sorgfältig abzuwägen, was der heutigen Erneuerung im Wege steht. Die Partei sollte an der Spitze der politischen Erneuerung stehen, die zur Erneuerung der gesamten Gesellschaft führen wird. Auch ich drücke meine Befürchtungen vor der möglichen Entwicklung aus, und daraus ergibt sich auch mein Brief, und so muß man ihn auch bewerten. Glauben Sie, ein Dialog ist notwendig, und zwar auch mit Kommunisten außerhalb der KP, wie auch mit anderen Demokraten aus unabhängigen Gruppen, denen nicht das Schicksal des Volkes und unseres Vaterlandes gleichgültig sein kann.

Alexander Dubcek, 23.6.89, Bratislava (Text in Auszügen)