Ungarn zwischen Skylla und Charybdis

■ DDR-Flüchtlinge sind nicht Ungarns einziges Dilemma / Das Mehrparteiensystem ist kein Allheilmittel

DDR-Flüchtlinge, die an der ungarischen Grenze zu Österreich festgenommen werden, bekommen künftig keinen Stempel mehr in den Paß, der sie bei der Rückkehr diskriminiert. Dazu hat sich die ungarische Regierung aber erst nach langem Hin und Her - Druck kam aus Bonn wie aus Ost-Berlin - durchgerungen. Das Dilemma, zwischen alten Ostbindungen und neuen Westfreunden zu stehen, ist symptomatisch auch für die innenpolitischen Schwierigkeiten der ungarischen Reform: Das Alte taugt nicht mehr, die Strukturen für das Neue sind noch nicht da.

Die siebenbürgischen Fernsehzuschauer glaubten ihren Augen nicht zu trauen, als sie zu gewohnter Stunde den Bildschirm anschalteten: Statt der gewohnten minutenlangen Ceausescu -Bilder sahen sie vergangene Woche ihren vor vierzig Jahren ins Schweizer Exil vertriebenen König Michael, der mit seinem kommunistischen Nachfolger hart ins Gericht ging. Der Exkönig, der den Herrschern von Bukarest vorwirft, sie hätten den Verstand verloren, hatte seinen ersten Auftritt im ungarischen Fernsehen.

Das Ereignis, möglich geworden durch die neue Pressefreiheit in Ungarn, löste in Bukarest wütende Reaktionen aus. Demonstrativ rief die rumänische Regierung ihren Botschafter in Budapest zu „Konsultationen“ ins Heimatland zurück. Nicht ganz so dramatisch, aber ähnlich erbost hatte einige Monate zuvor die tschechoslowakische Führung reagiert, als ungarische Fernsehjournalisten den Parteichef des Prager Frühling, Alexander Dubcek, ausführliche interviewten.

Der ungarische Reformprozeß hat der Budapester Regierung nicht nur außenpolitische Erfolge beschert. Während der Westen den Reformkommunisten an der Donau mit kaum noch zu bremsendem Wohlwollen begegent, haben sich die Beziehungen zu den sozialistischen Nachbarn rapide verschlechtert. Da sich in Ungarn niemand mehr findet, der Journalisten oder Demonstranten einen Maulkorb umhängt, verstößt das Land beinahe täglich gegen den ungeschriebenen Grundsatz des sozialistischen Lagers: Keine öffentliche Kritik an den Bruderstaaten.

Diese rächen sich mit Angriffen, die besonders seit der feierlichen Neubestattung des hingerichteten Ministerpräsidenten von 1956, Imre Nagy, im Juni einen bedrohlichen Klang angenommen haben. Die Nagy -Rehabilitierung ist für die Bruderparteien keineswegs eine innerungarische Angelegenheit, sondern zerstört das mühsam befestigte Geschichtsbild zwischen Berlin und Bukarest. Anlaß genug für das Politbüro der SED, sogleich seine „große Sorge“ über die Entwicklung in Ungarn zu äußern, wo unter der Fahne der Erneuerung des Sozialismus Kräfte am Werk seien, die die Beseitigung des Sozialismus anstrebten.

In ähnlicher Weise meldete sich auch der tschechoslowakische ZK-Sekretär Jan Fojtik zu Wort. Er mahnte, in Ungarn würden sich „unter Fahnen der Erneuerung des Sozialismus nicht selten konterrevolutionäre Kräfte versammeln“. Und das ZK-Mitglied Vasil Bilak sagte, das wirtschaftliche und politische Chaos in Ungarn würde auch die Tschechoslowakei gefährden. Die rumänische Wochenzeitung 'Lumea‘ ihrerseits schrieb, die „Umbettung bestimmter Politiker“ zeuge von bisher ungenutzten Ressourcen verantwortungsloser und revanchistischer Kräfte.

Die Budapester Reformpolitik stößt aber nicht nur aus ideologischen Gründen auf Ablehnung bei den sozialistischen Nachbarn. Sie schafft vielmehr auch ganz handfeste Probleme, wie der plötzliche Baustopp für das ungarisch -tschechoslowakische Staustufensystem an der Donau zeigt, der von ungarischen Umweltschützern erzwungen wurde.

Vor allem aber entwickelt sich Ungarn zum Mekka der Freiheitssuchenden. Rumänien sieht sich seit über einem Jahr einer Fluchtwelle ausgesetzt, rund 50.000 Menschen habend das Land über die „grüne Grenze“ nach Ungarn verlassen. Während sie früher ausgeliefert wurden, wird sich jetzt ein Budapester Büro des UNO-Flüchtlingshochkommissariates mit ihnen beschäftigen. Damit werden sie erstmals offiziell als politische Flüchtlinge anerkannt.

Inzwischen haben auch die DDR-Deutschen Ungarn als Sprungbrett in die Freiheit entdeckt. Seitdem im Mai mit der Beseitigung des „Eisernen Vorhangs“ begonnen wurde und ein Joint-venture die Stacheldraht-Teile als Souvenirs vertreibt, haben rund 1.000 DDR-Bürger ihren Urlaub für einen nächtlichen Spaziergang nach Österreich genutzt. Auf Druck der Bundesregierung werden die Abgefangenen seit neuestem auch keinen Stempel mehr in den Paß bekommen, so daß das Risiko bei einem Mißlingen der Flucht beinahe gleich Null ist.

Die Isolation, in die ungarische Reformer bei ihren Nachbarn geraten sind, hat inzwischen schon die Erinnerung an die Zeit der „Kleinen Entente“ in der Zwischenkriegszeit wachgerufen. Damals fühlte sich Ungarn umzingelt von feindlichen Nachbarn, die zudem die ungarischen Minderheiten als Faustpfand nutzten. Wie weit die Befürchtungen gehen, zeigt das Interview eines hohen ZK-Funktionärs, in dem er Überlegungen anstellte, die ungarische Verteidigungsdoktrin auf eine Bedrohung aus Rumänien zu überprüfen: „In Rumänien wurde mehrfach behauptet, man sei fähig, die Atombombe herzustellen. Wir haben Informationen, daß sich auf dem internationalen Waffenmarkt rumänisches Interess für den Ankauf entsprechender Mittelstrecken-Trägerraketen zeigt.“

Unter diesen Umständen sind in Ungarn die Rufe nach Neutralität und Abzug der sowjetischen Truppen merklich gedämpfter geworden. Diese waren aufgekommen, nachdem hohe sowjetische Vertreter mehrfach öffentlich erklärt hatten, ein Ausscheiden Ungarns aus dem Warschauer Pakt widerspreche nicht den Interessen der UdSSR. Außer Polen ist die Sowjetunion jedoch gegenwärtig der einzige Verbündete im osteuroöäischen Raum 'der sich voll hinter die Budapester Reformpolitik stellt. Und gegen den „Dubcek im Kreml“ sind selbst die zu allem entschlossenen Konservativen des Ostens machtlos.

Hubertus Knabe