„Warum fangen? Ihr laßt sie ja doch wieder frei“

Demotivation bei Italiens Banditen- und Mafia-Fahndern nach der Abschaffung von „Lebenslänglich“ / Einführung der Todesstrafe durch die Hintertür? / Ein „spektakuläres Entführungsende“ - doch kein Ende der Entführungen  ■  Aus dem Sila-Massiv W. Raith

„Nichts“, flucht der Carabinieri-Feldwebel Gioachino Rossi, während er, seine kleine Maschinenpistole malerisch erhoben, neben der Staatsstraße 107 aus dem Hubschrauber springt, „absolut nichts.“ Die zwei Kollegen, die ihm sein Fernglas und die Landkarte mit den Planquadraten abnehmen, heben die Schultern: „Die sind alle auf Tauchstation gegangen, seit Belardinelli.“

„Belardinelli“, das ist seit vergangener Woche ein magisches Wort. Da war es Polizisten und der GSG-9-ähnlichen Carabinieri-Spezialtruppe NOCS gelungen, den vor gut zwei Monaten entführten florentinischen Kaffee-Großhändler Dante Belardinelli aus seinem Verlies nördlich von Rom zu befreien.

Italiens Zeitungen, jahrelang gewohnt an die Ineffizienz ihrer Ordnungskräfte gegenüber Entführungen (seit Kriegsende an die 700 Fälle), setzten zu gewaltigen Hymnen auf ihre Polizei an: eine Operation so recht nach dem Volksgeschmack

-tot den Banditen, Ledernacken als Volkshelden, der Befreite gehörig gezeichnet, aber doch heil und im TV beim Abbusseln hunderter von Wangen zu begucken. Zum erstenmal hatte der Staat einen Entführten strategisch - und nicht nur wie bisher allenfalls mit Glück - herausgehauen.

Soviel Lob macht Appetit; und genug Meriten gäbe es da auch noch zu ernten: Mindestens fünf Personen, darunter ein Jugendlicher und eine Frau, befinden sich derzeit in den Händen der allgemein als „Anonima sequestri“ bezeichneten Banden zwischen der Toskana, Sardinien und Kalabrien. Möglicherweise sind es aber auch mehr als 20 - viele Angehörige verständigen die Polizei nicht, weil diese dann sämtliche Besitztümer der Familie beschlagnahmen kann, um Lösegeldzahlungen zu verhindern. Daß der Staat sich nach Jahren der „weichen“ Linie - das heißt Duldung von Lösegeld

-zum Durchgreifen entschlossen hat, liegt nicht nur daran, daß Verweigerungen von Zahlungen die Überlebenschancen der Opfer eher erhöht als Willfährigkeit.

Auslöser für die nun gezeigte Entschlossenheit war die spektakuläre Aktion der Mutter eines vor 15 Monaten entführten 17jährigen Jungen: Angela Casella reiste aus dem heimischen Padua in die Zone des mutmaßlichen Verstecks am Aspromonte in Südostkalabrien, fesselte sich wie die Erpresserfotos ihren Sohn zeigen und nächtigte auf Marktplätzen. Mit einem Mal wandelte sich die bisher indifferente Haltung nach dem Motto „Selber schuld“: Erstaunt hörte man davon, daß die Banden in aller Regle allenfalls Mittelständler, doch keinesfalls Superreiche entführen, um nicht mächtige Polizeiaktionen fürchten zu müssen; dazu provozierte das sichtbare Leid der Frau eine ganz spontane Solidarität. Die Bürgermeister der Gegend traten aus Protest gegen die Ineffizienz des Staates geschlossen zurück.

Die Tatsache, daß Belardinelli nun aber nicht wie bisher fast alle Entführten im äußersten Süden Kalabriens gefunden wurde, sondern in Mittelitalien, hat hektische Razzienaktivität in nahezu allen Regionen Italiens ausgelöst. Wie eben hier im Sila-Massiv an der Grenze zwischen der Basilicata und Nordkalabrien. Eine der ärmsten Zonen des Landes, rein bäuerlich bestellt, ethnisch recht gemischt: an die 100.000 Nachfahren im 16.Jahrhundert eingewanderter Albaner leben hier neben zahlreichen Griechischstämmigen und „genuinen“ Italienern. „Die Entführerbanden haben hier so leichtes Spiel“, sagt Luciano Violante von der Antimafiakommission. „Die geben irgendwelchen Hirten oder Bauern 20 Millionen (26.000 DM), für die ein Haufen Geld - und dabei können sie nebenher noch ganz regulär ihre sonstige Arbeit tun.“ Die Tatsache, daß in dieser Gegend die mit einkommensschwächsten Dörfer des Landes liegen - manche kommen pro Kopf im Jahr auf nicht einmal 6.000 DM -, dafür aber eine Arbeitslosenquote von 30 Prozent herrscht, unterstützt die These vom Kriminalitätspotential der Gegend eindrucksvoll.

Die Ausbeute der Razzia könnte sich denn auch sehen lassen

-wäre da nicht eben „Belardinelli“ mittlerweile einziges Richtmaß für den Erfolg. So aber subsumiert Feldwebel Rossi unter seine Meldung „Nichts, absolut nichts“: die Entdeckung ganzer Waffenarsenale in verfallenen Häusern - drei Maschinenpistolen, 27 Magazine, vier Handgranaten, sechs P28 -Pistolen, vier Schrotflinten mit abgesägtem Lauf, tausend Schuß Munition; eine Werkstatt zum Umspritzen gestohlener Autos; die Festnahme fünf steckbrieflich gesuchter Personen; die Stellung einer Bande von Viehdieben in flagranti; die Bergung der Leiche eines seit Wochen vermißten Mannes aus Giovanni in fiore.

Die Stimmung am Abend im Ristorante zu Camigliatello ist gedrückt. Die Depression rührt aber nicht nur daher, daß man kein Entführtenversteck aufgestöbert hat - irritiert hat die Fahnder vielmehr eine Meldung aus dem Radio: das Parlament hat völlig überraschend einen Antrag der Grünen und Radikalen zugestimmt und die Abschaffung von „Lebenslänglich“ beschlossen. „Ein verrücktes Land“, kommentiert Oberleutnant Mario Rustelli, „vor zwei Wochen haben wir uns noch gegen die Kritik der Menschenrechtskommissionen an der langen U-Haft-Dauer gewehrt - und nun schaffen wir Lebenslänglich ab, die einzige Möglichkeit, unsere Schwerstkriminellen von der Gesellschaft fernzuhalten.“

„Wozu halten wir eigentlich unsere Köpfe hin“, fragt Feldwebel Carlo Di Gennaro und spielt auf die fast fünf Dutzend im Kampf gegen Mafia, Camorra und Banditentum umgekommener Kameraden an, „wenn die die Gangster dann wieder laufen lassen?“ Einig sind sich alle, daß es bei hartgesottenen Mafiosi- und Camorra-Bossen „sowas wie eine Resozialisation nicht gibt: Die machen ja schon im Gefängnis munter weiter und dann erst mal wieder draußen...!“ Eine Beobachtung, der keinerlei Erfahrung widerspricht, leider. Der Zorn auf die Gesetzesinitiatoren ist ziemlich einmütig, und nicht nur bei den Polizisten: Im ganzen Restaurant macht sich eine „Lieber-gleich-Draufhalten„-Stimmung breit. Und die gerät nahezu ins Brodeln, als ein weiterer Mord an einem jungen Polizisten und seiner schwangeren Frau bei Palermo bekannt wird. Hatte man gestern die NOCS-Agenten der Balardinelli-Befreiung noch gelobt, weil es ihnen „bei all der Ballerei noch gelungen ist, ein paar Banditen lebendig zu fangen“, so heißt es jetzt: „Gut haben sie's gemacht, daß sie die beiden umgelegt haben - wäre auch um die anderen nicht schade gewesen.“

Tags danach nimmt sich die Eskorte eines Geldtransports drei Gangster bei einem Überfall 80 Kilometer weiter südlich bei Vibo Valentia so gründlich vor, daß nur einer überlebt. „Die Abschaffung von Lebenslänglich“, sinniert der Major, der uns bei der Ankunft in Catanzaro von dem Vorfall berichtet, „bedeutet wahrscheinlich die Einführung der Todesstrafe durch die Hintertür - statt der Festnahme.“