: Die Mauer im Kopf
Am 13.August wird das Bauwerk 28 Jahre alt ■ K O M M E N T A R E
Die Mauer hat sich in den letzten Wochen und Monaten mehr verändert als in den 27 Jahren zuvor. Dabei ist die Gegenständlichkeit des Bauwerks gleich geblieben. Was also ist anders geworden? Zunächst einmal ist sie so durchlässig wie nie seit ihrem Bau. Soviele Westreisen, Ausreisen, Fluchten wie in diesem Jahr gab es noch nie seit jenem 13.August 1961. Aber das bezeichnet nur etwas äußerliches. Die entscheidende Veränderung ist eine andere.
Heute wird anders und sehr viel mehr über die Mauer nachgedacht, gesprochen, geschrieben und phantasiert als jemals zuvor. Noch vor fünf Jahren wäre jeder, der behauptet hätte, dieser Betonwall würde die Jahrtausendwende nicht überleben, als Spinner abgetan worden. Heute besetzt dieser Gedanke die Köpfe der Menschen in der Bundesrepublik ebenso wie wohl auch in der DDR. Und diejenigen, die drüben dann doch nicht so ganz daran glauben, die gehen, jetzt erst recht. Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheint, darf nicht unterschätzt werden, daß es dieses veränderte Denken, die geradezu unheimliche Fixierung auf die Mauer ist, die die Menschen heute auf andere Weise raustreibt aus der DDR als jemals zuvor und die Stagnation der politisch Herrschenden in der DDR verfestigt. Auch im Westen hat die Fixierung auf die Mauer zu Absurditäten, zu politischer Stagnation geführt. Um diese Veränderungen zu begreifen, muß man sich erst einmal von dem Bauwerk selbst entfernen.
Ein Schlüsselerlebnis in der Bundesrepublik auf die eine und in der DDR auf eine andere Weise ist der rasant vor sich gehende Reformprozeß von oben in der Sowjetunion, von Solidarnosc und von Reformern in der Kommunistischen Partei in Polen und von Intellektuellen in Ungarn. Mit anderen Worten: Keine gesellschaftliche oder politische Veränderung in der DDR oder in der Bundesrepublik ist Auslöser für das veränderte Denken über die Mauer, sondern ein äußerer Prozeß. Die fehlende Antwort der herrschenden politischen Klasse in Bonn auf die Reformen in Osteuropa kann nur als Stagnation interpretiert werden. Die politische Klasse hier hält weiter auf wenn auch bemerkenswerte Weise am Grundgesetzvorbehalt der Wiedervereinigung fest, er wird sogar belebt, gerade angesichts der Reformen in Ostmitteleuropa. Deutschlandpolitische Rhetorik, die sich in den letzten zwanzig Jahren nicht verändert hat, steht dabei immer mehr im Gegensatz zu politischem Reaktionismus. Die Schließung der Ständigen Vertretung, die politischen Sprüche vom „Haltet aus, Reformen werden kommen“, sind Beispiele dafür. All das setzt nicht auf einen politischen Prozeß der Reformen, der nur von der DDR ausgehen kann. Und den die Bundesrepublik dadurch für sich und von sich aus unterstützen könnte, indem sie sich mit zwei deutschen Staaten abfindet. Hoffnungen der politischen Klasse hier stützen sich auf Druck von außen.
Gab es jahrzentelang das schwarze Pferd einer drohenden Intervention des Warschauer Paktes in die DDR, so wird jetzt auf den weißen Schimmel pluralistischer Demokratie und politischer Reformen gesetzt, die bitte schön den Deutschen die Wiedervereinigung bringen sollen und das Verschwinden der Mauer. Es ist ein merkwürdiges Gespinst von Selbstbetrug, daß da die Köpfe besetzt hält. Dabei sind die Zeiten vorbei, in denen man in der DDR und in der Bundesrepublik auf eine Befreiung von außen setzen kann. Denn die wäre nur Unterdrückung. Die DDR muß ihren eigenen Weg gehen. Die Gesellschaft dort muß sich selbst befreien. Gerade weil das schwarze Pferd der Intervention und der Kalte Krieg vorbei sind. Auch eine Auseinandersetzung wie jüngst auf dem Tiananmen-Platz ist in der DDR nicht mehr vorstellbar. Vier Zeilen eines Gedichts des Leipziger Schriftstellers Heinz Czechowski kennzeichnen die Moral des deutsch-deutschen Verhältnisses treffend:
Wie die kleinen Schiffe
Sich an die größeren legen,
Lehnen die kleinen Lügen, mit denen wir leben
Sich an die größeren an und so weiter.
Max Thomas Mehr
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