: ZWISCHEN DEN HECKENROSEN
■ Tanzforschung aus erster Hand im Charlottenburger Schloßgarten
Man stelle sich vor, Lessing wäre nicht durch Aufführungen der Staatstheater, Schullektüre und Germanistenseminare in unserer Kultur verankert, sondern allein durch Liebhaberaufführungen überliefert. Es gäbe seine Texte nicht bei Reclam, vollständige Dialoglisten überhaupt nur zur „Minna“ und von den übrigen Dramen existierten bloß Inhaltsangaben und Kupferstiche in wertvollen alten Ausgaben in speziellen Bibliotheken. Würde einem dann nicht jeder Lessing-Kenner als verschrobener Sonderling vorkommen?
In einer solch kuriosen Ecke finden sich aber tatsächlich die Tanzforscher. Zur SommerWerkstatt Berlin gehörte ein Workshop, in dem sich zwei Wochen lang Tänzer, Musiker und Tanzhistoriker aus Europa mit „Lambranzis theatralischer Tantz-Schul“ (1716 - ausgestattet mit über 100 Kupferstichen) und dem großen Tanzreformer des 18.Jahrhunderts, Jean Georges Noverre (1727-1810), beschäftigt haben, von dessen über 100 Balletten es zwar keine Notationen gibt, aber Libretti, Bühnen- und Kostümentwürfe, und vor allem die ungewöhnlich dramatische Musik. In ihren vergnüglichen Aufführungen am Wochenende im Charlottenburger Schloßpark stand nicht der Versuch einer historisch genauen Rekonstruktion im Mittelpunkt; unser Befremden angesichts von Alongeperücken und schmachtend gereckten Armen war mit einkalkuliert, die Komik eingestanden. Doch neben aller ironischen Distanz ging es darum zu zeigen, daß bei den Tanzmeistern des 18.Jahrhunderts mehr zu finden ist als ein barockes Ornament, in dessen Fugen der rosa Puder nistet.
Von Lambranzis Figuren ließ die Berliner Gruppe „L'Autre Pas“ die „Grotescos“ zu einer Revue antreten: Zwei einbeinige Kugeln, ähnlich gestutzten Buchsbäumen, hüpfen und wippen in den Knien und verlassen ihren Platz im wohlgeordneten Decorum; ein riesiger Hut trippelt hinter dem hölzernen Hagestolz Scaramuzza her, der so geizig ist, daß er sogar vorgibt, weniger Gelenke als die übrigen Menschen zu besitzen; rotzenden Bauern geraten ihre dicken Bäuche zum Hindernis. Eine Doppeltgestalt tritt auf: ein Blinder mit einem Krüppel und Betrüger auf dem Buckel, fast schon eine Figur wie aus den Karikaturen der Revolution, in denen die Bauern Adel und Klerus auf ihrem Rücken schleppen. Dennoch paßt sie sich bei Lambranzi im großen Finale in die verschlungene Arabeske der Gesamtordnung ein.
Noverre, dem für den Tanz eine ähnliche Bedeutung zugeschrieben wird, wie sie Lessing für das Theater hatte, hielt sich nicht mehr an die fixierten Bewegungsabläufe des Barocks und arbeitete an einer neuen Gestalt und Mimik, die ohne Worte auskommen wollte. Der „European Early Dance Company“ lag daran, ihn als Vorläufer des expressiven Ausdruckstanzes und einer emotionsgeladenen Pantomime zu interpretieren. Da wogten zwischen Eurydice und Orpheus, die mit Blicken und ausgestreckten Händen langsam dahinschmolzen, die schwarzen Schicksalsgestalten und hielten die sich in Sehnsucht verzehrenden Liebenden mit diabolisch heftigem Gefuchtel voneinander fern. Um den Interpretationsspielraum zu verdeutlichen, den Noverre den Tänzern zugestand und damit zugleich ihre individuelle Ausdrukskraft forderte, zeigte die Company die Ergebnisse ihres Workshops in doppelter Besetzung.
KBM
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