: Über die Dunkelheit im Kopf
■ Brief an einen Abgeworbenen: Die Würde des Arbeiters werden Sie verlieren und ihrer Klasse in den Rücken fallen
Eben habe ich erfahren, daß Sie mit Kind und Kegel unsere Republik verlassen haben. Es ging Ihnen, wie Sie mir früher selbst zugestanden, nicht schlecht. Auch hat niemand Ihnen etwas zuleide getan oder dachte daran, etwas zu tun.
Sie waren in Ihrem Fach ein tüchtiger Mensch und Sie arbeiteten gut und nützlich für den ersten Arbeiter- und Bauernstaat der Deutschen und für sich selbst. Jetzt werden Sie sich zweifellos bemühen, in Westdeutschland irgendeine Stelle zu finden, und dann werden Sie für den kapitalistischen und militärischen Staat arbeiten.
Um eine solche Stelle zu finden, werden Sie alles mögliche über den Druck erzählen, der angeblich bei uns auf Ihnen lastete, und über Verfolgung, der Sie angeblich bei uns ausgesetzt waren. Das werden Sie den Herren des westdeutschen, des amerikanischen und des englischen und des französischen Nachrichtendienstes erzählen, die Sie ausnehmen. Sie werden von diesen Herren der verschiedenen Spionagedienste ausgequetscht werden wie eine Zitrone.
In dem Betrieb, in dem Sie unterkommen, werden Sie unterwürfig sein wie ein Hund. Sie werden kein Wort gegen die Politik Bonns zu sagen wagen und auf die DDR, die gestern noch Ihre Republik war, schimpfen, wie es verlangt wird. Sie werden uns mit Schmutz bewerfen und verleumden.
Die Würde eines Arbeiters werden Sie verloren haben. Und die Dunkelheit in Ihrem Kopf wird ganz von Ihnen Besitz ergreifen. Und wenn doch ab und zu der Rest Ihres Gewissens schlägt, werden Sie sich immer neue Vorwände für Ihren schmählichen Schritt zurechtlegen.
Alles das werden Sie nicht deshalb tun, weil Sie ein besonderer Schurke sind, sondern aus Angst, aus dem Gefühl der Unsicherheit und um zu beweisen, daß Sie ganz und gar mit der DDR, mit all dem, womit Sie die Vorteile unserer Lebensweise genossen, gebrochen haben.
Und so werden Sie Ihrem Unternehmer, Ihrem Ausbeuter ein sehr loyaler Arbeiter sein und sich dreimal mehr anstrengen als bei uns.
Sie werden Ihren neuen Kollegen in den Rücken fallen, und die Werkspione werden mit Ihnen rechnen ebenso wie die Herren des Verfassungsschutzes. Sie werden das auch nicht tun, weil Sie ein besonderer Schurke sind, sondern weil Sie sich durch Ihren Schritt in eine solche Lage begeben haben.
Und wenn die westdeutschen Arbeiter in Ihrem Betrieb sich gegen die Atomrüstung aufbäumen, dann werden Sie schweigend und verlegen beiseite stehen. Von uns verachtet, werden Sie unter den aufrechten westdeutschen Arbeitern keine Freunde finden. Das Kainsmal Ihrer Entscheidung wird Sie kenntlich machen als einen Menschen, der seiner Klasse in den Rücken fiel und nicht einmal ein Linsengericht dafür bekam.
So wie Sie handelten damals jene rückständigen Arbeiter, die die Dunkelheit des Kopfes und des Herzens dazu trieb, für die Partei Hitlers zu sein und für Hitler zu wählen. Als dann aber Hitler geschlagen wurde, da wollten solche Leute wie Sie nichts davon gewußt haben. Es graute ihnen bei dem Gedanken, mitschuldig gewesen zu sein an dem, was über die deutsche Arbeiterklasse und ganz Deutschland hereinbrach. Wer heute aus der Deutschen Demokratischen Republik in das Lager der westdeutschen Militaristen und Großkapitalisten desertiert, begeht ein ebensolches Verbrechen wie jene, die durch ihre Verworrenheit den Lockungen der Nazipartei gefolgt sind.
Ich kannte Sie und kannte Sie gern, trotz all Ihrer Schwächen, die mir bekannt waren. Als ich Sie damals zum erstenmal in Ihrem Betrieb sah, mit den goldenen Händen eines deutschen Arbeiters an der Maschine stehend, da schlug mein Herz für Sie.
Ach, hätten Sie zur rechten Zeit diese unselige Dunkelheit in Ihrem Kopf überwunden! Ach, hätten Sie diesen verhängnisvollen Schritt nicht getan! Ach, hätten Sie nicht nur gut gearbeitet, sondern auch gut gedacht und gefühlt, wie ein kluger Arbeiter!
Es ist bitter für mich, an Sie diese Zeilen zu richten. Denn auch der Zorn über den Verrat, den Sie begangen haben, kann meine Trauer um den Verlust eines Menschen, der etwas ganz anderes hätte werden können und der zu Größerem befähigt war, nicht übertönen.
Ich weiß nicht, was aus Ihnen werden wird. Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden. Und doch kann ich nicht die Hoffnung aufgeben, daß Sie den erbärmlichen Weg nicht bis zu Ende gehen werden. Es gibt aus jedem Irrtum, so schwer er auch war, einen Weg zurück. Vielleicht auch für Sie?
Professor Eisler, in: Berliner Zeitung, 26.Juli '61
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