: Der Preis für die Demokratie
Miklos Haraszti über die Reformen in Ungarn, den Unterschied zur Entwicklung in Polen und die Verwandlung der KP in eine kapitalistische Klasse ■ I N T E R V I E W
taz: Was ist charakteristisch für den Unterschied der Reformen in Polen und Ungarn?
Miklos Haraszti: Der Widerstand gegen das Einparteiensystem in Polen war viel organisierter und einheitlicher. Praktisch die gesamte Intelligenz in Polen partizipierte daran. Solidarnosc als Arbeiterbewegung konnte sich außerdem nach ihrer Niederlage von 1981 wiederbeleben. In Ungarn war das alles anders. Die Resistenz gegen die Regierung war diffuser, passiver, wirkte natürlich auch, aber produzierte keine politische Gegnerschaft, mit der die Regierung zusammenwirken oder gegen die sie hätte so ankämpfen können. Andererseits sieht es so aus, als hätten wir in Ungarn und Polen heute sehr ähnliche Entwicklungen. So haben sich die kommunistischen Parteien beider Länder für ein Mehrparteiensystem entschieden. In Polen nach einer offenen politischen Niederlage, in Ungarn war es eine Entscheidung des Establishments. Das bedeutet nicht, daß die Kommunistische Partei bei freien Wahlen in Ungarn nicht auch eine vernichtende Niedarlage erleiden würde. Ein weiterer Unterschied muß berücksichtigt werden: Die sehr viel stärkere polnische Opposition hat es auch mit einer sehr viel stärkeren polnischen Kommunistischen Partei zu tun. Der nicht sehr starken ungarischen Opposition steht hingegen eine Kommunistische Partei gegenüber, die sich dazu entschlossen hat, sich in eine kapitalistische Klasse umzuformieren.
Das Problem der Opposition ist doch, wenn ich es richtig sehe, daß sie nicht mehr als eine Negativopposition ist.
Das stimmt. Trotzdem wird die Opposition 70 Prozent bekommen, was formal gesehen ein gutes Wahlergebnis wäre. Aber es wäre kein positiv verwurzelter programmatischer Wahlsieg. Es wäre ein sehr viel stärkerer Negativwahlsieg als in Polen. Das ist normal für eine sterbende Diktatur, in der es die erste Möglichkeit einer freien Wahl gibt. Es ist normal für eine totalitäre Diktatur, deren Hauptaufgabe es immer war, die Opposition zu vernichten. Polen ist das einzige kommunistische Land in der gesamten kommunistischen Zivilisation, in der eine organisierte Opposition überleben konnte. Zurück zu deiner Ausgangsfrage.
Warum seid ihr zum jetzigen Zeitpunkt gegen Wahlen?
Unser Verhandlungsziel mit der Regierung in Ungarn ist es, minimale Voraussetzungen für wirklich freie Wahlen zu schaffen. Das bedeutet erst einmal, eine wirklich freie Presse zu haben und die Armee und Polizei zu depolitisieren. Die KP hingegen will zuallererst einen Präsidenten auf polnische Art haben, um damit ihr Überleben als KP zu sichern.
Heißt das, die KP ist gegen einen Volksentscheid zur Wahl des Präsidenten?
Nein. Sie ist dafür, weil sie glauben, Pozsgay würde gewinnen. Die Opposition ist dagegen.
Warum seid ihr dagegen? Ist es besser, ihn im Parlament wählen zu lassen?
Die Kommunistische Partei wäre auch happy über eine Parlamentsentscheidung. Aber ihr Plan ist es, einen Präsidenten vor den ersten freien Parlamentswahlen zu organisieren und mit Pozsgay einen Präsidenten mit königlicher Autorität zu schaffen. Mit diesem Image wollen sie dann in freie Wahlen gehen. Das ist Hauptgegenstand der Verhandlungen. Dagegen ist die Opposition in der Tat.
Die Opposition hat in den Dörfern und Provinzen noch keine Büros. Wir haben noch keine nationalen Organisationen und Parteien. Das braucht Zeit.
Ist der Eindruck richtig, daß es überhaupt noch keine Polarisierung zwischen Regierungspartei und Opposition gibt?
Das stimmt. Wir haben in Ungarn eine pluralistische Opposition, ganz anders, als sie in Polen existiert. Die Nachwahlen haben aber gezeigt, daß die Opposition doch als Einheit funktionieren kann. Die drei neuen Parteien Fides, Forum und Freie Demokraten haben sich dabei aktiv zusammengetan und gewonnen.
Als wir uns das letzte Mal sahen, hast du Pozsgay keine wirkliche Reformfähigkeit zugetraut. Wie schätzt du ihn heute ein?
Das Präsidium der KP hat erst einmal die Differenzen vertuscht, Grosz gerettet und nicht vernichtet. Im Kongreß möchte Pozsgay dann natürlich endlich die Führung der Kommunistischen Partei auf seine Seite bringen. Man wird sehen, was dabei herauskommt.
Wie kam es dazu, daß Pozsgay und die Stalinisten oder Relativstalinisten einig in die Wahlen gehen können?
Der Preis dafür ist, daß die Kommunistische Partei keine reine Reformpartei werden wird. Plan ist immer noch, die Kräfte der lokalen Mafia, Karrieristen usw. miteinzubeziehen. Pozsgay ist mit dem jetzigen Konzept einverstanden, und er will natürlich einen Reformplatz in dieser Partei einnehmen. Er wird noch große Schwierigkeiten bekommen. Ich glaube übrigens nicht, daß die Kommunistische Partei mit Pozsgay über die 30 Prozent kommt. Außerdem bin ich optimistisch und glaube, es wird trotz aller Schwierigkeiten zu einer Art Einheit der Opposition bei Wahlen kommen. Das wird natürlich eine diffizilere Einheit als in Polen, aber das hat auch Vorteile. Die 70 Prozent Wähler in Ungarn, die heute der Opposition ihre Stimme geben würden, wollen in erster Linie eine einheitliche Opposition ohne ideologische Unterschiede, aber sie wollen auch eine Art Pluralismus. Sie wollen eine sehr ausdrückliche Koalition der Oppositionsparteien. Das reicht für die Wahl. Die große Frage heute lautet, ob Pozsgay einige der Oppositionsparteien überzeugen kann, eine Koalition mit seiner Partei einzugehen. Ich glaube aber, je mehr Zeit vergeht, desto geringer wird die Notwendigkeit einer solchen kommunistischen Koalitionsregierung. Ungarn kann das erste Land in diesem Teil Europas mit einer reinen nichtkommunistischen Regierung werden.
Gibt es denn schon Präsidentschaftskandidaten der Opposition, die Chancen hätten, gegen Pozsgay heute schon zu gewinnen oder im nächsten Sommer?
Bevor freie Wahlen stattgefunden haben, gibt es keinen Konkurrenten für Pozsgay, weil die neuen Parteien keine solche Vaterfigur haben. Falls die Präsidentschaftswahl vor der freien Wahl stattfindet, setzt sich sein Programm durch, daß da heißt: Wir Stalinisten, Armee, Polizei, Warschauer Pakt sind unberührt, und ich Reformkommunist Pozsgay kann die Gefahr einer Rückkehr zum Stalinismus bannen. Das wäre ein Rückfall in den Kadarismus, das heißt das kleinste Übel zu wählen und das dann auch noch zu lieben. Aber dieser Pozsgay, wenn er Kandidat einer Partei nach freien allgemeinen Wahlen würde, hätte vielleicht 15 oder 20 Prozent. Dann erst hätte doch das Volk die Möglichkeit gehabt, ihr Urteil über die KP abzugeben, und sie wäre im Ergebnis schwächer als heute noch. Nach einer freien Wahl wäre Pozsgay eben nur Kandidat einer kleinen Partei unter vielen, die KP hätte ein viel geringeres Gewicht.
Wann werdet ihr euch über Wahlmodalitäten und Zeitpunkt einigen am „dreieckigen Tisch“?
Der Oppositionsvorschlag lautet, die Hälfte der Kandidaten über Bezirke und die andere Hälfte über eine Liste zu wählen. Außerdem soll es zwei Wahlrunden geben. Die zweite Runde wäre eine schöne Möglichkeit für Koalitionsbildung.
Wann soll die Wahl nach eurer Vorstellung stattfinden?
Das ist völlig offen. Bis Juni nächsten Jahres muß sie stattgefunden haben. Es gibt eine Vereinbarung, wonach als Minimum für die Wahlkampagne drei Monate festgelegt sind. Wir sind für den März, die Kommunisten wollen so schnell wie möglich wählen, weil die Zeit natürlich gegen die KP arbeitet.
Du hast vorhin von der Kommunistischen Partei gesprochen, die sich zur kapitalistischen Klasse gewandelt hat. Wie ist das gemeint?
Zum ersten Januar haben sie ein Gesetz geschaffen, daß es möglich macht, die staatlichen Unternehmen in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Im Mai, Anfang Juni wurde das „Gesetz vom Übergang“ durchs Parlament putschistisch durchgepeitscht als bloß technisches Gesetz. Praktisch hat beides zusammen es ermöglicht, daß 80 Prozent der Aktien dieser neuen Gesellschaften von den früheren Managern an diejenigen verteilt wurden, die sie selbst ausgewählt haben. Die Nomenklatura hat sich also über Nacht in eigener Macht in eine kapitalistische Klasse verwandelt. Das ist der Preis, den die ungarische Gesellschaft für einen friedlichen Übergang zur Demokratie zu zahlen hat.
mtm
M. Haraszti gehört zur intellektuellen ungarischen Opposition und sitzt am „dreieckigen“ Verhandlungstisch.
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