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Bei Souk el Gharb verläuft die rote Linie

■ In 24 Stunden 100.000 Granaten auf libanesische Hauptstadt / Versorgungsengpässe in Beirut / Christliche Verbände wehrten in einer regelrechten Schlacht Angriff auf strategisch wichtiges Dorf ab / Syrischer Einmarsch in Ostbeirut wenig wahrscheinlich

Beirut/Berlin (ap/taz) - Aus den rauchenden Trümmern Beiruts wagten sich am Montag erstmals nach viertägigem heftigen Beschuß wieder Überlebende aus den Kellern, um sich mit dem Notwendigsten einzudecken. Sie machten fieberhaft Jagd auf Brot, Kerzen, Streichhölzer, Käse, Wasserflaschen und Zigaretten. Doch die meisten Bäckereien blieben geschlossen, und Flaschen mit Trinkwasser waren knapp. Es kam zu dramatischen Szenen, als Männer und Frauen entdecken mußten, daß ihre Wohungen zerstört, Freunde und Verwandte getötet worden waren.

Allein von Samstag abend bis Sonntag mittag waren rund 100.000 Geschosse in Ost- und Westbeirut eingeschlagen. Die libanesische Polizei gab die Zahl der Opfer unter der Bevölkerung mit 37 Toten und 120 Verletzten an. Außerdem seien 70 Soldaten und Milizionäre getötet worden. Die für libanesische Verhältnisse relativ hohe Zahl der Opfer unter den bewaffneten Kräften ist dadurch zu erklären, daß es am Sonntag bei der Ortschaft Souk el Gharb zum ersten Mal seit Beginn des vom Chef der christlichen Militärregierung Michel Aoun ausgerufenen „Befreiungskrieges“ gegen die syrischen Besatzungstruppen zu Bodenkämpfen gekommen war.

Auch am Montag beschossen die Syrer wieder den stategisch wichtigen Ort. Am Vortag waren drusische Milizionäre und Mitglieder der radikalen palästinensischen Splittergruppe von Abu Mussa hier bei einem Angriff von den christlichen Verbänden zurückgeschlagen worden. Ob sich auch syrische Soldaten an den Kämpfen beteiligten, ist nicht klar; offziell wurde dies dementiert.

Mit dem Angriff auf Souk el Gharb hatten die mit dem großen Bruder im Nachbarland verbündeten Milizen eine der „roten Linien“ im libanesischen Bürgerkrieg überschritten. Souk el Gharb, ein von der Bevölkerung verlassenes Bergdorf, kontrolliert den Zugang zum südlichen Teil des Christengebiets. Der Ort liegt oberhalb von Ostbeirut und dem Präsidentenpalast von Baabda, unter dessen Überresten der Bunker von Aoun liegt. Sollten syrische und pro-syrische Verbände diesen Ort erobern, wäre Ostbeirut in ihrem militärischen Würgegriff.

Der Vorstoß auf Souk el Gharb erfolgte, nachdem die christlichen Einheiten am Wochenende auch entlegene Teile des Landes unter Beschuß genommen hatten; ein Versuch, die syrischen Nachschublinien zu treffen, zugleich aber auch eine Demonstration der Stärke, denn die Geschosse reichten bis Bar Elias, das nur zehn Kilomterer von der syrischen Grenze entfernt liegt. Der Irak hatte Aoun mit massiven Waffenlieferungen unter die Arme gegriffen. Nunmehr liegt die syrische Hauptstadt Damaksus in der Reichweite von Aouns Mittelstreckenraketen vom Typ Frog-7.

Doch dies sollte nicht über die tatsächlichen Kräfteverhältnisse hinwegtäuschen. Ungeachtet seiner diplomatischen Erfolge kann Aoun seinen Krieg militärisch nicht gewinnen, denn die syrische Armee und vor allem die Luftwaffe sind ihm bei weitem überlegen. Für das Regime in Damaskus handelt es sich bei seinem Vorgehen, auch im Falle Souk el Gharb, um eine politische Entscheidung. Der Preis für einen Einmarsch in Ostbeirut wäre in jeder Hinsicht sehr hoch. Das weiß man auch in Damaskus. Die massiven syrischen Angriffe zielen eher darauf ab, die christliche Bevölkerung zu zermürben. Syrien hat nicht daß Problem Aouns, auf derartige Stimmungen Rücksicht nehmen müssen.

b.s.

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