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Die DDR-Opposition geht an den Start

■ Öffentlicher Aufruf in Ost-Berlin, eine "identifizierbare Alternative" für die nächste Wahl zu schaffen

Sie wollen nicht ausreisen, sie wollen mit den Ausreisewilligen nicht in einen Topf geworfen werden, sie wollen die DDR verändern. Und zwar noch vor den nächsten Wahlen zur Volkskammer in zwei Jahren.

Die Flüsterpropaganda hatte gerufen, und 400 Menschen waren gekommen. Ort der Veranstaltung am Sonntag abend: der Gemeindesaal der Bekenntniskirche in Berlin-Treptow, gleich gegenüber dem Westberliner Stadtteil Kreuzberg. Der Physiker Dr. Hans-Jürgen Fischbeck ist erster Redner, er vertritt die innerkirchliche Gruppe „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“, und seine Borschaft ist der Aufruf an die DDR -Opposition, eine landesweite Sammlungsbewegung für die Erneuerung zu gründen, die eine „identifizierbare Alternative“ bietet.

„Uns geht es nicht mehr darum, nur als Basisgruppen in allen Teilen der DDR zu überleben. Wir wollen deutlich machen, daß es hier Menschen gibt, die Ideen entwickeln, die Konzepte zur Veränderung vorlegen können und die ansprechbar sind.“ Diese Bewegung soll bei der nächsten Wahl die Alternative bilden, auch wenn sie sich jetzt nicht als Partei formieren kann.

Fischbeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaft, verdient also sein Geld außerhalb des Schutzraums der Kirche. In der Kirche arbeitet er in vielen Funktionen: als Delegierter im konziliaren Prozeß, in der Synode Berlin-Brandenburg, im Kuratorium der Evangelischen Akademie. Er ist Ansprechpartner und Bezugspunkt vielfältiger Bewegungen, als deren anerkannter Sprecher er an diesem Abend auftrat. Sein Vorschlag ist in einigen strategisch planenden Gruppierungen der rund 500 Basisinitiativen der DDR seit Monaten diskutiert worden und sollte eigentlich noch unter der Decke bleiben. Doch die Ausreisewelle ist auch für die Opposition, die im Lande bleiben will, eine Gefahr („wenn sich alle durch die enge Öffnung quetschen, bekommen die anderen keine Luft mehr“), und deshalb will man den Ausreisewilligen möglichst schnell eine Alternative aufzeigen. Das führte jetzt zur vorzeitigen Veröffentlichung des Vorschlags. Dabei will die Bewegung keine Untergrundstrukturen bilden, sondern von vornherein mit dem Anspruch auftreten, daß ihre Tätigkeit legal ist und innerhalb des sozialitischen Systems möglich sein muß.

Nach einer längeren Diskussion über die neuen Bewegungen und Entwicklungen in der UdSSR, in Polen und in Ungarn melden sich in dem Gemeindesaal zunächst diejenigen lautstark zu Wort, die das System für überhaupt nicht reformierbar halten: „Mit Verbrechern werden wir keinen Dialog führen“, heißt es da. Für diese kategorische Ablehnung gab es jedenfalls starken Applaus. Dennoch sind die Kräfteverhältnisse zwischen solchen Fundamentalisten und denjenigen, die den Dialog suchen, schwer abzuschätzen. Letztere - darunter der Initiativkreis „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ und der Friedenskreis der Bartholomäus-Gemeinde - haben vor kurzem die Kirchenleitung in einem offenen Brief aufgefordert, „autorisierte Gesprächsrunden“ herbeizuführen: zwischen SED-gelenkten gesellschaftlichen Organisationen, der Kirche und den oppositionellen Gruppierungen.

Auch für diese Position gab es im Publikum starken Beifall, als nämlich Gemeindepfarrer Dieter Ziebarth dafür plädierte, nicht auszugrenzen, Dialogbereitschaft zu zeigen und sich die Bewegungen in den benachbarten Ländern genauer anzusehen: „In Polen“, so argumentierte er, „haben gesprächsbereite Kräfte in wenigen Jahren die Entwicklung vom Kriegsrecht zum runden Tisch vorantreiben können. Für unsere oppositionelle Sammlungsbewegung müssen wir einen Grundkonsens finden, mit dem wir an die Öffentlichkeit treten können.“

„Noch eine solche Wahl darf es nicht geben!“ Die Wahlmanipulationen der Kommunalwahlen, an diesem Abend erneut diskutiert, stecken den Oppositionellen noch in den Knochen. Sie fühlen sich betrogen, konnten aber damals keine Alternative auf die Beine stellen.

Auf die Frage jüngerer Teilnehmer, warum Fischbeck persönlich erst so spät sein „Coming-out“ habe, ob der Sozialismus der DDR für ihn bisher undurchschaubar gewesen sei, antwortete der grauhaarige Physiker, sie alle hätten sich zu lange der Diktatur der Angst gebeugt. „Ich bin jetzt fünfzig Jahre. Gewußt habe ich schon lange, daß sich etwas ändern muß. Aber ich habe auch Angst gehabt. Erst vor ein paar Jahren habe ich Mut gefaßt, öffentlich aufzutreten. Durch die Veränderungen in unseren sozialistischen Nachbarländern verändern sich auch für uns die Rahmenbedingungen.“

Fischbeck hatte zuvor ausführlich seine Kritik an den Zuständen in der DDR begründet. Faktisch würden alle gesellschaftlich relevanten Positionen von der Partei besetzt. Die scheindemokratische Bestätigung erfolge dann durch Wahlen ohne Gegenkandidat. Dieses Vorgehen mit dem Parteiprogramm („die Partei stärkt den Staat“) gerechtfertigt. Zunächst seien die Produktionsmittel verstaatlicht worden, dann die ganze Gesellschaft. Marx und Engels aber hätten keine verstaatlichte Gesellschaft gewollt, sondern genau das Gegenteil: ein langsames Absterben des Staates. „Der Staatssozialismus in dieser Form ist nicht vereinbar mit ehrlicher Offenheit, mit Glasnost. Nirgends, außer im 'Neuen Deutschland‘, steht geschrieben, daß der Sozialismus nur auf diese Weise zu erreichen ist.“ Die innere Öffnung der DDR sei auch der einzige Weg, die Mauer abzubauen.

Mitglieder verschiedener oppositioneller Gruppen der DDR unterstrichen in der anschließenden Diskussion die Notwendigkeit, Lenins Frage „Was tun?“ jetzt auf die Tagesordnung zu setzten und die Voraussetzungen für eine strukturierte Opposition umgehend zu schaffen.

Peter Ramin

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