: Orient gegen Okzident
■ Das 42.Internationale Filmfestival von Locarno ging am Samstag zu Ende
Nachmittags, im Palazzo Fevi. Die Stimme aus dem Hinterhalt. Da rollt einer die Vokale von „Locarno“ und „internazionale“ und „concorso“ aus einem riesigen Mund in die Dunkelheit, daß einem angst und bange wird. Und dies unter Einsatz ganzer Hundertschaften von Watt, in den ersten Reihen halten sich die Zuschauer voller Schrecken die Ohren fest, dahinter in den Sitzen deutliche Abtauchbewegungen. Dabei wird mit der sich täglich mehrfach wiederholenden Brüllerei lediglich angekündigt, was eh alle im Saal wissen: Hier findet ein Filmwettbewerb statt, soll heißen: ein ganz wichtiger.
Der Eindruck täuscht. Verstanden hat das der Sponsor dieses filmischen Sommerspektakels, das am letzten Sonntag zu Ende gegangen ist: Zigarettenhersteller Barclay kümmert sich um die Zuschauer, weniger um die Filme; und so rennen adrette junge Damen durch die Cafe-Stände des Festivalgeländes und lichten in den Pausen das Publikum auf Polaroid ab, zum Mitnehmen.
Aber 110 Filme in zehn Tagen, die zeigt man nicht einfach so. In Locarno werden folglich seit Jahren auch Preise in dem Wettbewerb um den „Leoparden“ vergeben, und die gingen in diesem Jahr ausnahmslos an asiatische Produktionen, aber dazu später mehr.
Locarno im August, das ist vor allem ein riesiger Filmklub unter freiem Himmel, sechs-, sieben-, neuntausend Zuschauer jeden Abend auf der Piazza des Städtchens, vor einer gigantischen Leinwand mit dem Unterhaltungsprogramm. Und daneben der Wettbewerb, und dann eine Übersichtsschau über die Schweizer Filmproduktion, und alle diese netten jungen Filmschaffenden aus Zürich und Genf treffen sich hier und spüren einen Hauch von Wichtigkeit (oder, je nach Bedarf, von Überdruß), und ein „Fenster auf das italienische Kino“ gibt's (wir sind in der italienischen Schweiz) und eine Afrikanische Woche und eine Retrospektive (dieses Mal zu Ehren des Amerikaners Preston Sturges) und eine Menge schlechtbesuchter Pressekonferenzen und eine Menge Fünfzehnjähriger, die hingebungsvoll über das debattieren, was ihnen da präsentiert wird.
Am letzten Samstag, abends. Da steht der kleine Festivalpräsident (Marke: Provinz-Pate) vor der großen Leinwand auf der Piazza und rattert die Preisträger herunter, als gehöre das eigentlich gar nicht dahin, flüchtig vom Blatt gelesen, irgendwie nebens Mikro gesprochen. Nur die Ansagerin ist voller Begeisterung dabei und wiederholt mit Wärme die fremden Laute des Siegertitels gleich mehrmals: Dharmaga Tongjoguro Kan Kkadalgun. Gewonnen hat der Streifen des Südkoreaners Yong-Kyun Bae Warum ist Bodhi-Dharma nach Osten aufgebrochen? Gute Frage.
Der flüchtige Eindruck, es gehe eigentlich nicht um die Preise, wird durch eine flüchtige Bemerkung genährt, die an jenem Abend neben den fremden Lauten kaum auffällt. Das internationale Reglement für den Run auf den Leoparden schreibt zwingend vor, daß im Wettbewerb nur Erstlings- oder Zweitwerke (in Ausnahmen auch mal eine Nummer drei) gezeigt werden dürfen. Und die müßten aus Ländern kommen, so hallt es über die Piazza Grande, deren Filmindustrie ebenfalls noch im Anfängerstadium steckt (als gelte das für Italien, die USA oder die BRD, die alle im Wettbewerb vertreten waren). Das klingt, so kurz vor der Bekanntgabe der Preisträger, wie eine Entschuldigung: Wenn wir könnten, wir wir wollten, müßten wir jetzt in der Zielgeraden nicht solchen Ausschuß präsentieren. Auch dieser Eindruck kann nur falsch sein.
Der Ausschuß von Locarno war nämlich deutlich auf bestimmte Herkunftsregionen begrenzt - auf die europäischen und amerikanischen Beiträge zu diesem 42.Leopardenspiel. Das sind Filme wie Dreißig Jahre des Schweizers Christoph Schaub. A setima letra des Portugiesen Simao dos Reis oderAffettuose lontananze des Italieners Sergio Rossi. The top of his head aus Kanada, Estacio central aus Spanien oder Shadow man aus den Niederlanden. Streifen, die kaum einen Gedanken verdienen außer der Frage: Wie kommen die in einen internationalen Wettbewerb? In Locarno wurde vor Jahren Jim Jarmusch „entdeckt“ - aber heute? Das mag an Veränderungen auf dem Filmmarkt liegen, die Nachwuchspflege gehört jetzt in allen Ehren zum internationalen Geschäft hinzu - Steven Soderbergh, dessen Sex, lies and videotapes dieses Jahr in Cannes gewann, ist 26 Jahre alt. Mithin: Ein dahergelaufener Leopard kommt kaum noch gegen die Löwen der Branche an. Da sind Cannes-Berlin-Venedig vor.
Das wäre eine freundliche Erklärung. Die weniger freundliche: Der künstlerische Direktor des Wettbewerbs, David Streiff, hat bei seinen Beutezügen durch die europäischen Studios wirklich nur das gefunden, was er dann auch bekommen hat, für Locarno. Hoffentlich nicht.
Warum ist Bodhi-Dharma nach Osten aufgebrochen? Der internationale Leoparden-Verleih-Ausschuß (unter anderen Peter Stein aus der Bundesrepublik, die französische Schauspielerin Dominique Sanda, der Moskauer Regisseur Aleksandr Askoldov oder der Cineast Gaston Kabore aus Ouagadougou) hat damit eine gute Wahl getroffen. Überhaupt verliert in dem Locarneser Treffen zwischen Orient und Okzident der Westen glatt mit null zu drei: der Silberne Leopard an den indischen Beitrag Piravi (Die Geburt) von Shaji N. Karun und das bronzene Tier für den Iraner Abbas Kiorastami und Khaneh-je doost kojast? (Wo ist das Haus des Freundes?). Die Geschichte des südkoreanischen Siegerfilms ist einfach und unendlich kompliziert: Bodhi -Dharma verläßt die Stadt, verläßt seine Familie und geht zu einem buddhistischen Einsiedler in die Berge, bei dem Alten lebt nur ein kleiner Junge, der Neuankömmling versucht sich hier mit den Mühen der Selbstfindung in der Kontemplation. Die Mühe, die Suche, die Versuchung, der Tod, die Fülle der Bedeutungslosigkeit, dafür findet der Film packende stille Bilder und einen Rhythmus, der das eigene Zeitgefühl der Zuschauer unmerklich außer Kraft setzt. Acht Jahre lang hat der 38jährige Yong-Kyun Bae sein Filmprojekt abseits der Filmindustrie von Seoul verfolgt und dabei eine Authentizität erreicht, gegen die fast alle europäischen Beiträge wie blasse Dokumentationen eines Ja-ja-so-isses -Gefühls wirken.
Eine der europäischen Ausnahmen kam aus der Bundesrepublik: Uwe JansonsVerfolgte Wege, der schon einmal in München präsentiert wurde. 1959 geboren, erzählt Janson eine Geschichte aus dem Jahr 1946; völlig glaubwürdig in Szene gesetzt, erzählt er das, was die Generation vor ihm nicht erzählen konnte: die Schweigsamkeit eines Kriegsheimkehrers in der deutschen Provinz. Er findet eine Sprache für die Sprachlosigkeit einer Generation, und das hat etwas Beschwichtigendes. Kein Wunder, daß er den Preis der Jugendjury in Locarno bekam.
Andreas Rostek
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