: Der Magnetismus und die Mulle
■ Eisenhaltige Zellen im Bereich der Augen dieses staatenbildenden Säugetieres ermöglichen ihm die Orientierung in unterirdischen Gängen
Fernsehstars sind sie geworden. Gebraucht haben sie dazu nicht einmal zwei Jahre. Im November 1987 erschien, nach einer kurzen Notiz in „Geo“, der erste ausführliche Bericht über die Mulle in der taz. Unglauben, Gelächter und Spott ergossen sich über die Autorin, ein Leser schrieb verärgert, solche schlechten Scherze seien Platzverschwendung. Niemand wollte so recht an dieses erst in den fünfziger Jahren entdeckte staatenbildende Säugetiervölkchen aus den Steppen Südwestafrikas glauben, das stockblind und blindergeben, stets unter der Erde, in strenger Staatenformation von Arbeitern und Soldaten rund um seine Königin lebt.
Auch ein weiterer Bericht in der taz (taz 29.8.88) und einer in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ änderten daran nichts. Da mußte erst das Fernsehen kommen und im Frühjahr dieses Jahres und dann noch einmal im August kurze Beiträge über die seltsamen Säuger im Magazin senden.
Während die staunende Öffentlichkeit allmählich beginnt, das Phänomen Mull zu akzeptieren, ist Professor Hynek Burda am Zoologischen Institut der Universität Frankfurt schon wieder ein erhebliches Stück weitergekommen. Seit einigen Jahren forscht er dem Staatswesen der Mulle als einziger Wissenschaftler in Europa nach. Sein ursprünglich bis 1988 begrenzter Auftrag ist inzwischen verlängert worden.
Er stellte sich - zusammen mit seinen Mitarbeitern Marhold und Westenberger - vor allem zwei Fragen. Wie schafft es die Königin, daß ihr der Rest der Mulle zu Diensten ist? Und: Wie orientieren sich die blinden Tiere in ihren großen Gangsystemen unter der Erde?
Die Königin, die mit ihrem Hofstaat im Hauptnest innerhalb des Gangsystems lebt und von den Arbeitern mit Futter versorgt wird, ist die einzige, die Junge bekommt. Durch Duftstoffe hemmt sie diese und die anderen Weibchen des Staates im Wachstum und hindert sie, sich fortzupflanzen. Den Duftstoff scheidet sie mit dem Urin aus. Experimente ergaben, daß Weibchen, die lange von ihr getrennt gehalten und dann in den Bau zurückgesetzt wurden, sofort begannen, sich mit interessierten Männchen zu paaren. Stirbt die Königin, tragen die Weibchen untereinander blutige Nachfolgekämpfe aus.
Burda ist aufgrund seiner Erkenntnisse inzwischen eine beeindruckende Nachzucht der Tiere gelungen, die sich anfänglich in Gefangeneschaft nicht vermehrten. Die ersten Exemplare seiner Zucht holte er sich in Sambia, als er dort Erdgänge und Nester untersuchte. Bei den Grabungen halfen ihm ortskundige Sambier, denen das unter der Erde hausende Tier vor allem als Ernteschädling schon lange bekannt war. Ihr Interesse an den mit den lateinamerikanischen Meerschweinchen verwandten Nagern war jedoch ein ganz anderes als das des Forschers. „Mulle“, sagt Prof.Burda etwas verlegen, „sollen eben auch sehr gut schmecken“.
Er erinnert sich, daß die südafrikanische Professorin Jarvis noch Anfang der 80er Jahre in Kenia von vielen Mitarbeitern „ganze Gebiete zerwühlen“ ließ, um eine Königin zu fangen. Damals galten die neuentdeckten Tiere als Sensation und Kuriosität und zogen StudentInnen aus aller Welt an. Die Nachtzucht jedoch mißlang. Auch Burda bekam in Sambia keine Mull-Königin. Er fing nur Arbeiter verschiedener Völker ein, rund 20 bis 30 Stück. Er brachte sie dennoch nach Frankfurt - und hatte Erfolg. Er reduzierte die Stammesgruppen schlicht und einfach auf einzelne Paare und setzte sie in getrennte Käfige. So auf eine Kleinstgruppe reduziert, gaben die Tiere Aufschluß über ihre Arterhaltung. In den „Kleinstgruppen“ vermehrten sie sich trotz der im ursprünglichen Bau durch die Königin angelegten Fortpflanzungshemmung. Was in größeren Gruppen nie gelungen war, fand nun ständig statt: die Geburt kleiner Mulle und damit die Gründung neuer Staaten.
Auch zur Theorie der Staatenbildung bei den Mullen machte sich Burda seine eigenen Gedanken. Bisher galt die Annahme, daß der Mull-Staat sich gebildet habe, weil er viele Arbeiter brauche, um die weit verstreuten Nahrungsquellen in der Savanne, die in trockenen Gebieten seltenen Wurzeln und Knollen, zu erreichen. Die Tiere müssen viel buddeln, also viel arbeiten, um zu überleben. Burda sieht das anders herum. Er geht davon aus, daß sich die Koloniegröße am Nahrungsangebot orientiert.
Die Mulle zeichnen sich nach seinen Erkenntnissen in der Fortpflanzungsbiologie durch konservative Merkmale aus. Sie sind in ihrer Entwicklungsgeschichte kleiner geworden, haben aber ihre 100tägige Tragzeit nicht verkürzt. Sie sind - im Gegensatz zu den ihnen nah verwandten neuweltlichen Stachel und Meerschweinchen - keine Nestflüchter. Darin ähneln sie eher einer anderen Kategorie der Nagetiere, zu der auch Ratten, Hamster, Mäuse und Eichhörnchen zählen. Burda nimmt an, daß die Weibchen der Mulle im Lauf ihrer Entwicklungsgeschichte kleiner geworden sind und die neugeborenen Mulle eigentlich Frühgeburten sind. Die Jungen wachsen auch nach der Geburt nur langsam. Das Überlebensmodell Mull-Monarchie erklärt er u.a. mit der physischen Unfähigkeit der Weibchen, Fett zu speichern. Wenn sie nichts zu fressen bekommen, verbrauchen sie schon an einem Tag 20 Prozent ihres Eigengewichtes. Deshalb rühren sie sich mit ihren Jungen nicht aus dem Nest und werden von den anderen Tieren versorgt.
Der energiesparende und den Bestand sichernde Versorgungsbetrieb funktioniert eben wegen der o.g. von der Königin abgesonderten Duftstoffe. Sie überzeugen die Männchen und die in der Fortpflanzung gehemmten Weibchen, daß sie Futter heranschaffen müssen. Dies bedinge, so Burda, möglicherweise auch die relative Monogamie der Mulle. Die Königinnen bevorzugen für die Paarung immer wieder bestimmte Männchen aus dem Hofstaat.
Mulle können sich das ganze Jahr über fortpflanzen, eine Fähigkeit, die „eigentlich ein Privileg des Menschen ist“. Dazu Burdas Erklärung: Unter der Erde, in ständig gleicher, durch die Anlage der Gänge geregelter Temperatur, ohne Tages - und Jahreszeiten, „herrschen stabile Verhältnisse“, „es gibt keine Saison“. Die Königin und ihr Favorit kopulieren fast täglich. Wenn der nächste Wurf kommt, hören die Jungen des vorherigen fast ganz auf zu wachsen und reihen sich in die Versorgungsmannschaft ein. Nach Burdas Beobachtungen werfen die Königinnen maximal zwei Mal im Jahr höchstens zwei Junge, von denen ein knappes Drittel stirbt. Pro Jahr überleben also im Durchschnitt drei Tiere. Eine Königin kann sich rund acht Jahre lang fortpflanzen, den Stamm also um 24 Tiere vergrößern. Das entspricht ungefähr der Anzahl einer durchschnittlichen Mull-Gruppe.
Spannendster Gegenstand der Forschung ist für Burda allerdings der Orientierungssinn der Tiere, ein Gebiet, das im Frankfurter Institut Tradition hat. Seit rund 20 Jahren forscht hier schon sein Kollege, Prof. Witschko, über den der Brieftauben. Daß die Mulle sich möglicherweise am Erdmagnetismus orientieren, vermutete Burda schon in Sambia. Die dort untersuchten Gänge richten sich, ebenso wie im gesamten südwestafrikanischen Verbreitungsgebiet der Tiere, immer gleich aus: von Südost nach Nordwest. Burda untersuchte einzelne Tiere mikroskopisch. Der Fund eisenhaltiger Zellen im Bereich der rudimentär erhaltenen blinden Augen bestätigte seine ersten Vermutungen. Doch die Untersuchungen stagnieren derzeit, die Ergebnisse harren einer endgültigen Bestätigung, weil der Universitätscomputer in der entscheidenden Untersuchungsphase ausstieg. So gelang bisher nur der Nachweis der Qualität solcher Zellen, nicht aber der ihrer Quantität und ihrer Funktion.
Burda unternahm mit den Tieren, die er im Institut und bei sich sich zu Hause hält, auch Versuche mit der Helmholtzspule. In ihr kann der Erdmagnetismus durch Erzeugung homogener elektromagnetischer Felder künstlich simuliert und seine Ausrichtung verändert werden. Die Tiere orientierten sich auch hier nach der Richtung der vier gedrehten - Feldlinien.
Daß auch Menschen und Delphine sich am Erdmagnetismus orientieren, wurde lange vermutet. Die Mulle wären die ersten Säugetiere, bei denen der Nachweis gelingen könnte. Sie sind also auch für die Zukunft noch für Überraschungen gut.
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