: Flüchtlingsstrom hält unvermindert an
■ Lösungen nicht in Sicht / Honecker orakelt vor Arbeitern: „Wir sind zu qualitativ neuen Schritten imstande“ / Offensichtlich schnelle Reaktion Ost-Berlins auf Kohls Brief
Berlin/Budapest (dpa/ap/taz) - Das SED-Zentralorgan 'Neues Deutschland‘ veröffentlichte an prominenter Stelle in seiner gestrigen Ausgabe den Wortlaut einer Meldung der amerikanischen Nachrichtenagentur 'ap‘. Darin wird der Generalsekretär Erich Honecker in einer Rede vor Erfurter Arbeitern mit den Worten zitiert: „Wir sind zu qualitativ neuen Schritten imstande.“ Auch den Hinweis der Agentur, darin „deute Honecker eine Reformbereitschaft der Partei und Staatsführung an“, brachte das Zentralorgan unkommentiert.
Demgegenüber zeichnet sich in der Flüchtlingsfrage noch keine Veränderung ab. Insgesamt sitzen etwa 600 Flüchtlinge in BRD-Vertretungen. Ein Mitarbeiter der ständigen Vertretung in Ost-Berlin meinte: „Nur noch auf höchster politischer Ebene ist ein Durchbruch denkbar.“ Ungewöhnlich schnell hat die DDR auf ein Schreiben Kohls an Honecker reagiert. Regierungssprecher Schmülling bestätigte, daß eine erste Reaktion übermittelt worden sei. Der ständige Vertreter der BRD in Ost-Berlin, Bertele, soll darüber hinaus in Telefonkontakt mit dem DDR-Außenministerium stehen. Über Inhalt und Form wurde jedoch nichts bekannt. Diplomaten in Ost-Berlin wollen darin ein Zeichen der Gesprächsbereitschaft Ost-Berlins sehen. In Bonn hieß es, zu Optimismus gebe es keinen Anlaß.
In Budapest haben gestern zehn DDR-Flüchtlinge die Botschaft verlassen. Der Strom hilfesuchender DDR-Bürger hält demgegenüber unvermindert an. Das ungarische Rote Kreuz und kirchliche Organisationen haben unterdessen die Betreuung der Flüchtlinge übernommen. Ungarische Grenzwachen sollen mittlerweile das Grenzgebiet zu Österreich weiträumig abgeschirmt haben, um DDR-Bürger an der Flucht zu hindern. Radio Budapest bezeichnete das Flüchtlingsproblem als „große Tragödie unserer Zeit“ und wies mit Blick auf Lösungsmöglichkeiten darauf hin, daß nur solche in Betracht kämen, die die Beziehungen Ungarns zu Ost-Berlin trotz aller Differenzen nicht belasteten.
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