: Für eine neue Vielfalt in Osteuropa
Sozialdemokraten suchen in der neuen Phase der Entspannungspolitik Kontakte zu Regierenden und Opposition in den osteuropäischen Ländern ■ D E B A T T E
I. Der frühere „Ostblock“ ist kein „Block“ mehr. Die Gleichförmigkeit poststalinistischer Systeme beginnt einem politischen, ökonomischen und kulturellen Pluralismus zu weichen. Diese Änderungsprozesse in Ungarn, Polen und der Sowjetunion sind schmerzhaft und voller Widersprüche. Stets besteht die Gefahr des autoritären Rückfalls. Aber diese unvermeidbaren Krisen bei Reformprozessen sind gesellschaftspolitisch auf Dauer weniger explosiv als jener erzwungene Schein von Stabilität in den beiden östlichen Nachbarstaaten der Bundesrepublik. Bei zunehmender Demokratisierung können politische und ökonomische Widersprüche sich zumindest legal, und das heißt weitgehend auch in institutionalisierten Formen, ausdrücken. Wo aber in Osteuropa noch weitgehend autoritär regiert wird, muß jeder nicht von oben gelenkte Massenprotest von den Partei- und Staatsapparaten als prinzipielle Infragestellung herrschender Regeln und Institutionen empfunden werden. Wo auf Reformen verzichtet wird, bleibt nur noch die Alternative Stagnation oder Aufruhr. Um dieser destabilisierenden Alternative zu entrinnen, muß auch in der DDR und der CSSR endlich mit grundlegenden inneren Reformen begonnen werden.
II. Die SPD hat sich in den fünfziger Jahren mehr als jede andere Partei der Spaltung Europas und Deutschlands entgegengestemmt. Als Sozialdemokraten 1969 die Regierung führten, wollten sie durch vertragliche Anerkennung der bestehenden Grenzen Feindbilder und Feindschaft abbauen, um so den Frieden politisch zu sichern und Abrüstungsverträge zu ermöglichen. Durch Friedenspolitik sollten auch in Ost und West durch den kalten Krieg gefesselte innenpolitische Reformkräfte befreit werden. Das langfristige Ziel der SPD war auch und bleibt auch in Zukunft unverändert: im Sinne aller drei Körbe der KSZE-Schlußakte die Spaltung Europas mit friedlichen Mitteln zu überwinden. Ich bin der Meinung, daß aufgrund der inneren Reformen in Osteuropa insbesondere der Europarat und die EG neue Funktionen bei der Überwindung der Spaltung Europas übernehmen sollten.
Abrüstungsverträge, Verträge über kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit, ja die Vereinbarung der KSZE-Schlußakte selber sehen eine enge und zunehmende Zusammenarbeit auf Regierungsebene voraus. Dies wird auch in Zukunft so sein und so bleiben müssen. Ebenso wie der Fraktionsvorsitzende der Solidarnosc, Geremek, bei seinem Besuch in Bonn durch Gespräche mit CDU und CSU zwischenstaatliche Regierungsverhandlungen zu beeinflussen versuchte, muß die SPD auch in Zukunft als wichtigste Oppositionspartei und potentielle Regierungspartei den Dialog mit den Regierungen und regierenden Parteien in Osteuropa suchen.
Aber dies war und ist nicht ausreichend: Ebenso wie die kommunistischen Parteien Osteuropas wie selbstverständlich den Dialog mit allen relevanten gesellschaftlichen Kräften in der Bundesrepublik pflegen und hierüber hinaus die gesellschaftlich kaum relevante DKP auch noch politisch und materiell fördern, muß die SPD den zunehmenden Pluralismus innerhalb der Gesellschaften Osteuropas in Zukunft noch mehr als in der Vergangenheit Rechnung tragen. Die politische Solidarität mit denjenigen, die auf mehr Demokratie, soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Umwelt drängen, darf für Sozialdemokraten weder im Süden noch im Osten an den Grenzen von Nato und Europäischer Gemeinschaft enden. Die Solidarität muß nicht nur durch interne Gespräche mit in Osteuropa regierenden Politikern für von Repressionen Betroffene wirksam, sondern in ihren Prinzipien auch öffentlich erkennbar und vernehmbar sein. In welcher Form sich Solidarität äußert, wird je nach Land und Umständen unterschiedlich sein.
III. Im Mai diesen Jahres nahm ich in Budapest an einem mehrtägigen Rundtischgespräch von kommunistischen, sozialdemokratischen, liberalen und konservativen Abgeordneten aus allen Teilen Europas teil. Am Rande der von der ungarischen Regierungspartei organisierten Tagung konnte ich Gespräche mit der Anfang 1989 wiedergegründeten Sozialdemokratischen Partei Ungarns und anderen oppositionellen Strömungen führen. Im kommenden Jahr werden in Budapest bereits Vertreter der ungarischen Opposition und Abgeordnete der polnischen Solidarnosc offiziell am Rundtischgespräch teilnehmen. Auch die sowjetische Parlamentarierdelegation wird wahrscheinlich die neue Vielfalt im Obersten Sowjet widerspiegeln. Ähnlich sollten in Zukunft auch andere gesamteuropäische Konferenzen den neuen politischen Pluralismus Osteuropas offiziell zum Ausdruck bringen.
Ende Juli fuhr ich wiederum nach Ungarn. Dieses Mal redete ich unter anderem auf einer Sitzung des Parteirates der ungarischen Sozialdemokratie und nahm an einem Seminar von in verschiedenen oppositionellen Gruppierungen organisierten sozialdemokratischen Strömungen teil. Außerdem bot mir das Institut für Gesellschaftswissenschaft im ZK der USAP die Gelegenheit zum mehrtägigen gleichzeitigen Gedankenaustausch mit der kommunistischen Regierungspartei und Vertretern von rund elf oppositionellen Gruppen.
IV. Die Zahl der offiziellen und inoffiziellen Kontakte der SPD in Rumänien ist gering. In Polen haben sich die Beziehungen über die PVAP hinaus auch zu Vertretern der Solidarität verbessert. Meine Gespräche mit Vertretern der Solidarität in Bonn und in Warschau bestärken mich in der Auffassung, daß breite Strömungen in ihr gesellschaftspolitisch und auch außenpolitisch Vorstellungen ähnlich denen der SPD vertreten. Manche aus Sorge vor einer sowjetischen Intervention übervorsichtige und unkritische Stellungnahme führender Sozialdemokraten unmittelbar nach der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen erweist sich heute als Fehler. Um so mehr muß klar sein, daß Sozialdemokraten in einer Wahl eines Vertreters der Solidarität zum Ministerpräsidenten, gleichgültig ob er Geremek oder Walesa heißt, sowohl einen erfreulichen Schritt zur Demokratisierung wie zur Stabilisierung dieses Staates sehen.
Die Kontakte der SPD beschränken sich in der DDR und in der CSSR keineswegs auf die Führungen von Partei und Staat. Insbesondere zur DDR haben die Gespräche in den letzten Jahren eine Zahl und gesellschaftliche Bandbreite angenommen, daß schon aus diesem Grunde eine Pluralität von Auffassungen auf beiden Seiten gewährleistet ist. Dabei gibt es auch Kontakte zu einzelnen Oppositionellen. Aber diese Kontakte, insbesondere in der DDR, unterscheiden sich aufgrund geringerer Institutionalisierung qualitativ von den Ländern, in denen oppositionelle Gruppierungen bereits einen legalen oder quasi-legalen Status erreicht haben. Sozialdemokraten werden künftig in der jetzt beginnenden neuen Phase der Entspannungspolitik die gesellschaftliche und politische Spannweite ihrer Kontakte in allen osteuropäischen Staaten weiter zu verbreitern suchen. Neben Themen der Abrüstung haben bereits jetzt Themen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, des Umweltschutzes, des Jugend- und Kulturaustausches, der Geschichte und der Theorie der Arbeiterbewegung an Bedeutung gewonnen. Die Parteiführung der SPD wird auch in Zukunft nicht mit illegalen Kontakten und Maßnahmen in die Länder Osteuropas und insbesondere auch nicht in die DDR hineinzuwirken versuchen.
V. Im Kalten Krieg erstarrte in Europa der Gegensatz zwischen „real existierendem Sozialismus“ und pluralistischer Demokratie militärpolitisch zur Frontlinie zwischen Nato und Warschauer Pakt und politisch-ökonomisch zur Trennlinie zwischen EG und RGW. In der ersten Phase der Entspannungspolitik wurden Brücken über Fronten und Trennlinien hinweg geschlagen. In der jetzigen Phase der Entspannungspolitik beginnen durch zunehmende Zusammenarbeit und Ansätze zur gemeinsamen Koevolution gesellschaftspolitische Trennlinien ihren antagonistischen Charakter zu verlieren. Die Überwindung der Spaltung Europas wird noch Jahrzehnte dauern, aber die Vereinigung Gesamteuropas ist nicht mehr Utopie, sondern realpolitisch möglich.
Die sich beschleunigenden Reformen in mehreren Staaten Osteuropas sind eine Herausforderung für Westeuropa und den Westen insgesamt. Wenn Osteuropa sich nach Westen öffnet, darf Westeuropa ihm nicht in Selbstgenügsamkeit den Rücken zukehren. Die reiche Bundesrepublik Deutschland muß bereit sein, ausreichend finanzielle Mittel sowohl für die Aufnahme von Übersiedlern wie von Aussiedlern bereitzustellen. Die Abschaffung der Viumpflicht sollte nicht nur für Reisen innerhalb Westeuropas, sondern auch für Besucher aus Osteuropa abgeschafft werden.
Karsten D. Voigt, außenpolitischer Sprecher der SPD und Mitglie
im Parteivorstan
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